: Eichmann und die Unsterblichkeit
Adolf Eichmann war jener Nazi, der für die Organisation des Holocaust verantwortlich war. In israelischer Haft verfasste er Anfang der Sechzigerjahre kurz vor seiner Hinrichtung Memoiren: „Götzen“, ein Dokument von allwaltender Ordnung und vom angeblich menschlichen Versagen. Die Analyse eines Bürokraten
von CHRISTIAN SCHNEIDER
Der Verführte. Jeder, der seine Lebensgeschichte aufschreibt, arbeitet an seiner Unsterblichkeit. Nur wie? Welche Geschichte erzählt jemand, der angeklagt ist, die größte menschliche Vernichtungsaktion der Geschichte verwaltet zu haben? Zu welchem Zweck schreibt er angesichts der nahenden Hinrichtung – und für wen?
Ich diene“, erklärt Adolf Eichmann in seinen Lebenserinnerungen, „in dieser Arbeit niemandem; und ich beschönige nichts. Wie ich überhaupt durch meine Erfahrung jeden besonderen Obrigkeitsrespekt verloren habe. Fürwahr, ich schreibe zu niemanden Lob und mir ist es egal, ob meine Arbeit gelesen, egal, ob sie gelobt oder verdammt wird. Ich will nur warnen. Und warnende Worte sind weder Honig noch Milch. Sie sind dürr und trocken wie die Dornenbüsche der Pampa, oder wie bleichende Knochen in der Wüste.“ Die Mischung aus Weiheton und Bürokratensprache wird den Leser von Eichmanns Autobiografie bis zum Schluss begleiten.
Der da warnt und dem angesichts des Todes so viel egal geworden ist, hat, wie er im ersten Teil seiner Erinnerungen mitteilt, sein Leben lang Pech gehabt. Dabei hatte es gut angefangen: Adolf war ein intelligentes, fleißiges, gläubiges „Menschenkind“, aufgewachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen, einziger Sohn eines deutschen Firmengründers in Linz, Oberösterreich. Doch, so lässt er uns wissen, ausgerechnet der Glaube habe ihm den entscheidenden Strich durch seine Lebensrechnung gemacht – in dem Moment, als er sich vom Gott der Kinderzeit ablöste und sich neue Götter suchte. Er fand sie, als Mittzwanziger, in den Naziführern und verschrieb sich ihnen „mit Haut und Haaren“: „Wahrlich, ich diente den Göttern aus freien Stücken“ – selbst dann noch, als sie von ihm ganz prosaisch „dienstliche Tätigkeiten“ verlangten, die „zum Knochen kotzen“ waren.
Auch Haut, Haare und Knochen werden den Text begleiten. Als Metaphern. Eichmann lässt keinen Zweifel, einfach war sein Gottesdienst nicht, aber Überwindung gehört zum wahren Glauben – und es ging ja mit den neuen Göttern erkennbar voran. Der Dreißigjährige stutzte zwar ein wenig, als sie dem „verhängnisvollen Irrtum“ anheim fielen, bestimmte Menschengruppen partout eliminieren zu müssen, aber er konnte „weder den Göttern noch den Untergöttern hindernd in den Arm fallen, dazu fehlte mir jede Möglichkeit“.
Denn er stand ganz am Ende der Hierarchie: Über sich, außer den zwei Göttersorten, auch noch die Vorgesetzten. Eichmann war – so stellt er sich in seinen Lebenserinnerungen über Hunderte von Seiten dar – der verführte „kleine Mann“, genauso abhängig „wie Millionen anderer Befehlsempfänger“. Wie sie war und blieb er dem Gehorsam verpflichtet. Aber, und das unterscheidet ihn: Er gehorcht nicht nur, sondern er ist auch initiativ, intelligent und gutherzig.
Ein Konflikt deutet sich an. Was macht ein Mensch mit solchen Gaben, der doch dazu verdammt ist, „Rad im Getriebe“ zu sein? Nun: Er murrt über die Lähmung der Initiative durch den Apparat und verschreibt sein Leben dem einzig humanen Plan im Rahmen des verhängnisvollen Irrtums. Er setzt alles daran, die Juden, denen die Götter nicht gut waren, korrekt außer Landes zu schaffen. Kein Haar sollte ihnen gekrümmt werden.
Doch dann, wir haben es geahnt, schlagen die Götter zu: Sie geben ihr wahres Wesen zu erkennen, erlassen „unsinnige und verbrecherische Befehle“ und wandeln sich zu „Götzen“. Wann ist Eichmann das aufgefallen? Als er 1942 bei der Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, Protokoll führte? Bitte, unterschätzen wir doch nicht seine Intelligenz! Es waren die „Reichskristallnachtbefehle“ 1938, die ihn „in ihrer Unsinnigkeit“ selbst im fernen Wien trafen, wo er sich der „Judenfrage“ auf seine humane Art angenommen hatte: „Denn was ich mit Mühe in Österreich wieder aufgebaut hatte, nämlich ein funktionierendes jüdisch-organisatorisches Leben, freilich mit Blickpunkt auf Auswanderung, wurde in einer einzigen Nacht wieder zerschlagen.“ Ein Vertrauensverhältnis war zerstört! Nicht nur das zur Reichsführung, sondern, bitter, auch das zu den Juden.
Denn ihnen war Eichmann, der nie Antisemit war, in Wien näher gekommen. Oder besser: sie ihm. Insbesondere mit ihren Führern kooperierte er harmonisch, ja mehr noch: Sie „luden alles bei mir ab. Buchstäblich alles. Sie hatten in mir einen Menschen gefunden, der sie anhörte; stundenlang, ohne die Geduld zu verlieren.“ Eichmann, der geduldige Vertrauensmann der Deportation, war „förmlich so etwas wie eine Beschwerdestelle“ geworden, „zu der man mit allen Anliegen kommen konnte“. All das war nun durch die Unbesonnenheit der Führung dahin.
Von da an kämpft das Rädchen Eichmann seinen einsamen Kampf: Er versucht mit den bescheidenen Mitteln des Untergebenen, die Ordnung, ja die Harmonie wiederherzustellen, die durch Schlamperei, Fehlplanung, Unvermögen der Vorgesetzten, Fehleinschätzungen der Führung, Kompetenzstreitigkeiten, also durch „menschliches Versagen“ aller Art gestört worden war. Denn die Leidtragenden der Unordnung waren „die ohnedies von der Deportation Betroffenen“. Man sieht: Er beschönigt nichts.
Der Gespaltene. Eichmanns Geschichte hält die Mischung aus gefälschtem Rechenschaftsbericht und schönfärbendem Desillusionsroman bereit, die ähnlich wohl Hunderttausende Deutscher seiner Generation geschrieben hätten, wären sie dazu gezwungen gewesen.
Interessant ist die Differenz: Des Arguments, „von nichts gewusst“ zu haben, konnte er sich nicht bedienen. Nein, er ist ja in seiner Selbstdarstellung der Mann der Fakten und Dokumente, abhängig zwar, aber wissend. Über den Prozess schreibt er: „Meine besten Verteidiger hierbei waren die Dokumente.“ Selbstgefällig fügt er hinzu: „. . . soferne ich sie als einwandfrei und echt befand.“ Kleiner Mann ganz groß.
Was die Wahrheit in dem „Vorgang“ ist, den er zu verwalten hatte, entscheidet er allein. Deshalb ist auf der Ebene historischer Fakten aus „Götzen“ so gut wie nichts Neues zu erfahren. Worin liegt dann der Wert dieser „Erinnerungen“, die in allen entscheidenden Punkten gefälscht sind? Auf der psychologischen Ebene? Gewiss. Seltsam nur, dass am Ende der Lektüre fast jeder Impuls vernichtet ist, das Geschriebene in dieser Dimension zu analysieren.
Man mag beim ersten, autobiografischen Teil noch über die strikt durchgehaltene Konstruktion der Unschuld gestaunt haben und über die Frechheit der Lüge in Zorn geraten sein, die im zweiten Teil die Gestalt eines „dokumentarischen“ Nachweises der Unschuld annimmt. Der Versuch des dritten Teils, die eigene Psychologie und Weltanschauung „systematisch“ darzustellen, fasziniert oder ekelt an. Am Ende aber ist man an diesem aufgezwungenen Affekt erstickt, selbst der Wunsch nach Analyse verschwunden.
Ist es die Lüge, die den Leser so lähmt und ihm das Gefühl der Vergeblichkeit aufnötigt? Wohl auch. In erster Linie ist es jedoch die Art, in der der Autor von „Götzen“ sein Leben, seine Person, seine Wahrnehmung und Verantwortung spaltet – und dafür sorgt, dass nicht er, sondern der Leser die seelischen Folgen dieser Spaltung zu tragen hat.
Es ist, wie wir sehen werden, keine einfache Spaltung. Tatsächlich hat „Götzen“ eigentlich zwei Autoren: einen Erzähler und einen Funktionär. Nie tritt der eine ohne den anderen auf. Sie nehmen den Leser so unauffällig und bestimmt in die Mitte wie Kafkas Wächter den Josef K. am Ende des „Prozesses“. Der „Erzähler“ und der „Funktionär“ verfolgen identische Ziele – und doch different vorgetragene Zwecke. Der eine will rühren, der andere richtig stellen. Was beide zusammenzwingt, ist die Einheit des Affekts, der dem Leser aufgedrängt wird.
Sein sprachliches Äquivalent ist die erstaunliche Fähigkeit, die privatesten ebenso wie die sachlichen Mitteilungen ins identische Korsett erlesenster Substantivkonstruktionen zu zwingen. Ob Eichmann uns über seinen Mangel an „Robustizität des Gefühls“ oder eine „gewisse Oberflächlichkeitsbereitschaft“ aufklärt; ob er über „Lebensauslöschungsfelder“ referiert, von frühen Wünschen nach „Schmachbeseitigung“ und später nach „Glücklichermachung der Völker der Erde“ berichtet: stets obsiegt der Verwaltungsbeamte.
Wann immer der Erzähler ausschweift, holt ihn sein bürokratisches Alter Ego ein und diktiert Vermerke und Befehle an künftige Leser, Herausgeber und Lektoren, ja selbst noch die Zensoren. „Bemerkung: Man darf diese und andere schriftstellerische Worte keineswegs mit der Waage der juristischen Paragraphen wägen.“ Streichungen im Text dürften aus gestalterischen Gründen vorgenommen werden, „keinesfalls aber Hinzufügungen“. Die Farbe des Einbandes soll Perl- oder Taubengrau sein, „mit klarer linienschöner Schrift“. Auch die Verteilung der einzelnen Exemplare weiß er genau zu regeln.
Selbst an den pathetischsten Stellen passt der wachsame Bürokrat auf. Wenn der Lebensphilosoph Eichmann den Leser mit der Drohung erschreckt: „Der Tod tut nichts anderes, er führt mich zu neuen Leben“, schreit sein Aufpasser von der gegenüberliegenden Seite: „Achtung! nicht neuem Leben, sondern wie ich es schrieb! (Mehrzahl)“. Der Autor bescheinigt sich freudig eine „Ichspaltung“, eine „Art gewollte und bewusste Schizophrenie“. Und er weiß, wie es dazu kam. „Dieses Gespaltensein wurde ausgelöst durch mein Nichtverstehenkönnen, im Hinblick auf die Art der Behandlung von unbescholtenen Zivilisten durch die damalige deutsche Staatsführung und danach das Nicht mehr mit können bezüglich staatlicherseits befohlenen Massenmords an den Juden. Da ich jedoch damit nicht direkt befasst war und mein Handeln an der Mitwirkung der Deportation weder meinem Willen entsprach, noch von mir aus abgestellt werden konnte, ich solches überhaupt nicht einmal zu beeinflussen vermochte, lagen meine Hemmungen, der Hauptsache nach bei meinem inneren Ich.“
An Stellen wie dieser vergehen alle Gelüste nach psychologischer Interpretation: Eichmann nimmt sie ja schon vorweg. Was würde der diagnostische Hinweis auf „Verleugnung“ oder „Derealisierung“ samt ausführlicher Diskussion noch dem hinzufügen, was er uns vorführt? Vielleicht das Gefühl, nicht auch noch dies ihm überlassen zu dürfen?
Zeuge und Opfer. Selbstverständlich ist der Leser nicht überrascht darüber, dass Eichmann die Figur der Ichspaltung dazu benutzen wird, jede juristische Schuld als Sache des äußeren, „völlig hilflosen“ Ichs entschieden zurückzuweisen, um ihn von seinem inneren Kampf mit der Frage einer ethischen Schuld desto mehr zu überzeugen. Aber nicht das ist das Entscheidende. Mit der Spaltung, die ihm das Nichtverstehenkönnen auferlegt habe, versetzt er sich in die Rolle des Unbeteiligten, des fassungslosen Zuschauers, eines Zeugen wider Willen, der tapfer durchhält, um die Wahrheit zu sagen.
Eichmann modelt das von Heinrich Himmler in seiner berühmten Posener Rede besungene Bild des heldenhaften Täters, der das Unsagbare erträgt und daran stark wird, in das des heldenhaften Zeugen um: „Weil ich Hölle, Tod und Teufel sah, weil ich dem Wahnsinn der Vernichtung zusehen musste, fühle ich mich berufen und habe das Verlangen, hier zu erzählen und Kunde zu geben von dem, was geschah.“ In der Rolle des – entsetzten – Zeugen schildert Eichmann seine Erlebnisse mit der Vernichtungsmaschinerie – die er ja selbst aufgebaut hat.
Seine Aufgabe war stets, damals wie heute, „zu sehen und zu berichten“. Aber was sah er eigentlich? Als Adolf Eichmann 1941 abkommandiert wird, die erste primitive Vergasungsmaschine zu besichtigen, beschreibt er den Kontrast zwischen seinen „traumhaft schrecklichen Vorstellungsbildern“ und der erleichternden Realität auf seine typische Art: „Juden oder Leichen sah ich keine. Und ich muss sagen, ich fühlte mich sehr erleichtert; das Hören und Sprechen ist stets etwas anderes als Tun oder Sehen.“ Und: „Und das alte Soldatensprichwort, dass nichts so heiß gegessen wird, als es gekocht wurde, beruhigte mich doch sehr. Ich nahm das Vergasen einfach nicht ernst.“
Der nächste Besuch, Januar 1942 in Chelmno, hält dann freilich die „grässlichste Wirklichkeit, die ich je sah“, bereit. Der Leser wird auf schreckliche Bilder eingestimmt. Und was sah Eichmann? „Ich sah nackte Juden und Jüdinnen in einen geschlossenen Omnibus ohne Fenster einsteigen, die Türen wurden zugemacht und der Motor angelassen.“ Punkt. Das war es, was er sah.
Was ist an dem Bild so grässlich? Die Nacktheit? Der Omnibus ohne Fenster? Nein, durchaus nicht, sondern allein die Vorstellung von dem, was geschah. Eichmann drückt sie dem Leser auf. So, wie er so vieles in seinem Leben machte: unauffällig, aber mit Nachdruck. Der Leser wird mit den Vorstellungen überflutet, die Eichmann verweigert. Der heroische Zeuge schaut weg. Denn er hätte mehr sehen können, ja sollen.
Angewiesen, durch ein Guckloch ins Innere des Wagens zu schauen, in dem die Juden durch die Auspuffgase getötet wurden, wandte er sich ab: „Das konnte ich nicht mehr. Mir fehlten auch die Worte, meine Reaktion zu diesen Dingen wiederzugeben, denn es war alles zu unwirklich.“ Nichts sah der Zeuge Eichmann, aber er kann sich erinnern: „Ich weiß noch, dass ich mich in die Haut meines Handrückens zwicken musste, um festzustellen, dass ich wach bin, dass das, was ich sehe, Wahrheit ist, und dass ich nicht nur träume.“ Soll man es glauben?
Im Text geht es, ohne jede Unterbrechung, folgendermaßen weiter: „Ich kann mich erinnern, als man mich an jenem Maiabend in Buenos Aires überfallen hatte, dreißig Meter von meiner Wohnung entfernt, Füße und Hände zusammenband und mich mit einem Personenwagen auf eine Quinta brachte, in ein Pyjama steckte und mich mit den Füßen an ein Bett fesselte, nachdem mir die Augen verbunden waren; da zwickte ich mich ebenfalls in die Haut meines Handrückens, um festzustellen, was nun eigentlich das ist, träume ich, oder hat sich das, was ich mir eben einbilde, wirklich zugetragen. So ähnlich, erging es mir auch damals. Ich selber hatte mit den Dingen nichts zu tun. Meine mir befohlene Aufgabe war, nur zu sehen und darüber zu berichten.“
Beschreiben kann er detailliert den Zustand als Opfer des israelischen Geheimdienstes, immerhin. Selbstverständlich brauchte er sich nicht in die Haut zu zwicken, weder in Buenos Aires noch bei der Vernichtung der Juden in Chelmno. Er hat in beiden Fällen keine Sekunde am Realitätsstatus gezweifelt. Bei seiner Entführung gab er sehr schnell seine Identität preis und zu erkennen, dass er wusste, was ihm bevorstand.
Aber man versteht, warum diese beiden Situationen im Lebensbericht ineinander übergehen. Beide Male ist er das Opfer: das erste Mal der zum Zuschauen Genötigte, das zweite Mal das einer Entführung. Mit der Konstruktion der doppelten Zeugenschaft und des doppelten Opfers scheint Eichmanns persönliche Rechenschaft, seine Beweisaufnahme abgeschlossen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sitzt der Leser in der Falle der Spaltungen: zwischen dem Erzähler und dem Bürokraten, dem Zeugen und dem Opfer. Aber Eichmann ist längst noch nicht fertig.
Philosoph der Unsterblichkeit. Im letzten Teil von „Götzen“ geht es nicht mehr um Selbstrechtfertigung, sondern darum, „zu einer mich befriedigenden Weltbildvorstellung [zu] gelangen“. Eichmann, der sich fragt, wie er all das Schreckliche – den Krieg, die „Mühen des Existenzkampfes in Übersee“, die Entführung und den „Monsterprozess“ – hat überleben können, „ohne selbst Hand an mich zu legen“, will nun seine „innere Harmonie“ wiedererlangen. Am Ende seiner Lebensdarstellung schlüpft er, den wir zwischenzeitlich noch als Antikapitalisten, Pazifisten und entschiedenen Feministen kennengelernt haben, in seine letzte Rolle: Er mutiert, der Erdenschwere schon fast enthoben, zum Philosophen.
Seine eigens erfundene Philosophie der Unsterblichkeit bringt auf den Punkt, was einem bei der Lektüre die Sprache verschlägt. Sie ist der reine Ausdruck des schier unglaublichen Willens zum „Überleben“, der den psychologischen Kern des Nazismus bildet. Der Nazi überlebt nicht nur für sich, sondern „gegen“ jemanden; er setzt sein Sein gegen ein Nichts: das Nichts des Anderen. Der zum Tode Verurteilte erkennt, „dass es für mich kein Ende gäbe und ebenso wenig ein Nichts“.
Der antizipierte Blick aus der Unsterblichkeit rückt endgültig die Dimensionen zurecht, die Eichmann im israelischen Gerichtssaal so empfindlich verloren gegangen sah. Vor den fünf Milliarden Jahren Weltzeit verschwindet alles Grauen und jede Schuld: „Das Leid des Tages flieht, nur ich bleibe umstrahlt vom belebenden Glanze, mich ewig beschützender Sonnen.“ In diesem wahnsinnigen Narzissmus des grenzenlosen Ichs endet das Buch. Erst da, wo Eichmann sich auf seine Wiedergeburt vorbereitet, wird der unbewusste Sinn der Spaltungen deutlich, von denen „Götzen“ handelt.
Fünf Milliarden Jahre musste ich also warten, bis mich eine allwaltende Ordnung auf einen kurzen Zeitlauf als Daseinsform Mensch ‚abkommandierte‘.“ Und danach? „Nur eines weiß ich sicher, dass ich nach Beendigung meiner augenblicklichen Lebensform unzählige andere Daseinsformen des organischen und anorganischen Lebens als Partikelchen des ‚Seins‘ zu durchlaufen habe.“
Eichmann wird also wiederkehren – gerade weil er begriffen hat, dass in der Spaltung die eigentliche Macht liegt. Und dafür hat er denn auch mit verwalterischer Umsicht Sorge getragen. In seinem Testament verfügt er, dass nach der Verbrennung seines Leichnams die Asche aus Israel herausgeschafft und „in sieben Teile zu teilen“ sei: „[1]/7 der Asche soll in das Grab meiner Eltern kommen. [1]/7 der Asche im Garten des Hauses meiner Frau und Söhne in Buenos Aires verstreut werden. Von den restlichen [5]/7 gehören jedem, meiner Ehefrau und meinen Söhnen, je ein Siebentel. Es soll einem jeden von ihnen dermaleinst, wenn auch sie ihr Erdenleben beendet haben, mit in den Sarg gegeben werden.“
Eines Tages wird er, wie Phönix aus der Asche, wiedererstehen – und sein Buch wird noch da sein. Er wird es, lächelnd, aufschlagen und feststellen, wie Recht er hatte, und mit Befriedigung die abschließenden Zeilen lesen: „Freude nutzend, und wieder teilend, sollte die wahre Lebensaufgabe des Menschen während seiner Erdenjahre sein. Alles andere lohnt wenig und ist so recht bedacht nicht einmal egoistisch. Es ist nur töricht, sonst aber nichts.“
CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, arbeitet als Soziologe und Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main
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