Gefaltete Zehlein

Holger Friedrich hat einen avanciert seichten „Schlafsaal“ als Dienstleistungstheater eingerichtet

„Werktags ist der Schlafsaal voll.“ Der Portier mit dem ziselierten Kinnbärtchen verteidigt 26 leere Betten. Es ist Sonntag, the day after Love Parade. Gechillt wird offenbar woanders: lauter, dreckiger und vermutlich mit mehr Körperkontakt als in den Sophiensaelen, wo Schläfrige und Beladene alle volle Stunde eine frisch bezogene Schlafstatt mieten können, für acht Mark. Denn hier hat der Theater-Borderliner Holger Friedrich einen öffentlichen Raum zur Mittagsruhe eingerichtet. Unter der aufgesprungenen Decke des Festsaals, zwischen wunden Wänden und morbider Eleganz stehen nun schmale, hohe Betten in großzügigen, rechtwinkligen Abständen. Blau gewandete Schauspieler weisen als Maîtres morphés den Weg, schütteln die schneeweißen Kissen auf und lüften nach jeder Stunde. Dann bauschen sich die duftigen Gazevorhänge hygienisch im Wind; vom Band tönen Kinderrufe.

„Eine Sentimentalität“ lautet der Untertitel dieser Verschränkung von „Dienstleistung und Theaterprojekt“, die den Originalitäts- und Eventzwang von hinten aufzäumt und als „Oase in der Hektik des Großstadtgetümmels“ um Aufmerksamkeit wirbt. Für Freunde der Theater-Theorie ist das oberflächlich betrachtet wahrnehmungsfreie und ereignislose Schlaftheater besonders attraktiv, werden doch etliche Faktoren des herkömmlichen Theaterbesuchs auf den Kopf gestellt. Das in der Regel kaum reflektierte Betreten und Verlassen des Bühnenraums, das sonst die Aufführung rahmt, erhält im Schlafsaal zentrale Bedeutung, während man den Main Act nicht nur selber performt, sondern idealerweise und in zwingender Logik verpennt. „Kunst du das verstehen?“ titelte die Bild-Zeitung, während Holger Friedrich selbst sein Projekt als avancierte Seichtheit verstanden wissen möchte.

Am Tage des Herrn funktioniert das Dormitorium mitsamt seinen kultur- (Kloster, Hospiz) und sozialgeschichtlichen (Obdachlosenasyl, Jugendherberge) oder auch zukunftsweisenden (japanische Schlafwaben zur Steigerung der Arbeitskraft) Implikationen nur halb so gut. Kunsttouristen, neue Ökonomisten und virtuelle Kapitalverschieber, oder wen man sich sonst als potenzielle SchlafprotagonistInnen im Bezirk Mitte erträumen mag, sitzen munter brunchend im „Barcomis“ nebenan. Aus „social sleeping“ wird also nichts, was allerdings dem Sonntagnachmittagnickerchen ungeahnte Feierlichkeit verleiht. Königin ist, wer sich allein in 2000 Kubikmeter Luft zur Ruhe legen kann, umschlichen von Schlafdienerinnen, die lautlos über die knarzenden Böden zu huschen versuchen. Klospülungen rauschen durch die Wand. Kühle Poesie! Würde man tatsächlich schlafen, dann erschiene einem sicher im Traum ein Heiliger, vielleicht auch das Mondkalb mit gefalteten Zehlein. EVA BEHRENDT

„Dienstleistung Schlafsaal“. Täglich außer Montag 12 bis 17 Uhr (Einlass zu jeder vollen Stunde), bis zum 23. 7., Sophiensaele, Sophienstr. 18; vom 25. 7. bis 30. 8., Elisabethsaal, Invalidenstr. 3. Theateraufführungen: 13.–16. 7. u. 20.–23. 7., 21 Uhr, Sophiensaele