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Kein Reim, kein Ruhm

Wahre Lokale (28): Im „Unterhaus“ von Fürstenfeldbruck tobt das poetische Leben

Die erlebnisgastronomische Situation im oberbayerischen Fürstenfeldbruck an der Amper ist so deprimierend, dass sie eigentlich nur im Suff ertragen werden kann. Unmöglich ist ein Besuch im „Central-Café“ geworden, seit man sein Weißbier dort mit den Worten „Du noch Schneider!“ von einer osteuropäischen Serviererin hingeknallt bekommt. Gegen das Publikum der örtlichen „McDonald’s“-Filiale wirkt jenes in der Niederlassung des benachbarten Germeringen wie ein Intellektuellenclub. Das „Shakesbier“ (ehemals „Römerkeller“) gilt es aus offensichtlichen Gründen zu meiden.

Zum Glück gibt noch das „Unterhaus“. Unterirdisch gelegen garantiert es sowohl schummriges Ambiente als auch eine angenehme Kühle der eingelagerten Getränke. Eine abwechslungsreiche Dekoration aus unzähligen Blechinstrumenten, Krügen und sogar einer entkleideten Schaufensterpuppe, die an Wänden und Decke des Gewölbes aufgehängt sind, sorgt dafür, dass den Gästen der Gesprächsstoff nie ausgeht. Wohlgelittene Stammtrinker haben ihr eigenes Bierglas hinter der Bar deponiert, inklusive eingraviertem Namensschriftzug.

Bis man den begehrten Status des „U“-Stammgastes erreicht, ist es allerdings ein langer, beschwerlicher Weg. Zunächst wird man nämlich überhaupt nicht wahrgenommen. Das hat wenig mit dem weit verbreiteten Phänomen der Nichtbeachtung durch überforderte Kellner zu tun, sondern viel mehr mit dem speziellen sozialen Status der „Unterhaus“-Belegschaft. Wollen andernorts junge Männer später gern mal Astronauten, Lokomotivführer oder Bundeskanzler werden, steht in Fürstenfeldbruck die Berufung zum „Unterhaus“-Ober an erster Stelle auf der Wunschliste aufstiegsorientierter Jugendlicher. Der „Unterhaus“-Kellner ist im Besitz unumschränkter Macht, genießt dazu die Bewunderung sämtlicher weiblicher Gäste. Voraussetzung für die Einstellung durch Helga, die Wirtin, ist nicht etwa makelloses Aussehen oder besondere Kompetenz im Umgang mit Getränken. Vielmehr kommt es offenbar darauf an, dass sich die Vornamen der Kellner gut reimen lassen. Denn Helga dichtet gern. Sehr gern.

Jeden Monat liegt im „Unterhaus“ eine neue Ausgabe des „Stichwort“ aus, einer hausinternen Zeitung mit integrierter Speisekarte. Traditionell prangt auf der letzten Seite ein kleines Gedicht aus der Feder Helgas. Keineswegs Kunst nur für die Kunst: Mit dem Poesiegenuss wird der Gast gleichzeitig über Schmankerln und deren Nährwert informiert. Das klingt dann etwa so: „Ein Sommerbaguette bringt schnell der Rick / das schmeckt sehr gut und macht nicht dick.“ Kein Zweifel, dass Rick in der Hierarchie der „Unterhaus“-Kellner ganz oben steht – der Name ist Programm. Ein anderer Kellner namens Mônd (sprich: „Moend“) dagegen hat nach wenigen Wochen gekündigt. Kein Reim, kein Ruhm.

Die Hierarchie für Gäste sieht anders aus: Über Monate schmort der gelegentliche Besucher in der bereits erwähnten Hölle der Nichtbeachtung. Viel, viel später, man hat schon gar nicht mehr an eine Veränderung der Zustände geglaubt, kennt der Kellner plötzlich den Namen des Gastes. Dass der Gast den Namen des Kellners kennen muss, will er überhaupt eine Chance auf Bedienung haben, versteht sich von selbst. Ein Jahr später geht man allmählich zu nonverbaler Kommunikation über: Hält sich der Gast mit einer Hand die Augen zu, bedeutet das: „Ich hätte gern ein Dunkles.“ Die Hand wie ein in die Ferne blickender Indianer an die Brauen gelegt: „Ein Helles, Rick!“ Das ist der Zenit des Gastdaseins im „Unterhaus“: eins sein mit der Belegschaft, aufgenommen in die illustre Runde, endlich dabei sein. Manche schaffen das nie. Ein Freund träumt noch heute davon, „mit einem Maschinengewehr bewaffnet ins ‚U‘ zu stürzen und sie alle kalt zu machen“ – nur, weil er über Jahre schlecht bedient wurde. Er hätte sich vielleicht nicht ganz so oft seine eigene Tequila-Flasche mitbringen sollen.

Nach dem Zenit folgt der Abstieg, schleichend, über Jahre. Das, was früher so sehr gewünscht war, ist plötzlich schal geworden. Wortlos betritt man das Lokal, wortlos platziert Rick sofort ein Helles auf dem Tisch, wortlos blickt man in die Runde. Immer dieselben Leute hier. Und man selbst ist auch schon wieder da. Vielleicht wird es Zeit, sich selbst um einen Kellnerposten zu bewerben. Oder doch mal ins „Shakesbier“ zu schauen. STEFAN KUZMANY

Zitat:„Ein Sommerbaguette bringt schnell der Rick / das schmeckt sehr gut und macht nicht dick.“

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