: Die echt scharfe Revolution
Alle reden von der digitalen Technik, aber was genau bedeutet sie eigentlich für das Kino? Die Major Companies basteln bereits an ihren neuen Monopolen, und Regisseur Mike Figgis hat mit den kleinen Kameras einen viergeteilten Hollywood-Film in „Echtzeit“ gedreht: „Timecode 2000“
von DIETMAR HOCHMUTH
Das Schlagwort „digital“ ist mittlerweile fast genauso verschlissen wie die Worte Innovation, Umbruch oder gar Revolution. Schuld daran scheint nicht zuletzt der Gebrauch aller vier Worte in einem Atemzug, womit ein Phänomen beschrieben werden soll, dem mit Worten, zumal oft falsch benutzten, weniger beizukommen ist als mit bloßem Staunen bei aufgerissenem Mund.
Genau so muss es den Menschen ergangen sein, die Anfang des Jahrhunderts in provisorisch verdunkelten Räumen einen Eisenbahnzug von einem Stofftuch an der Wand gegenüber auf sich zufahren sahen; als sie dreißig Jahre später die sich schon recht vertraut bewegenden Mimen sprechen und sogar singen „sahen“; als das Leben auf der Leinwand irgendwann massiv in Farbe daherkam; als der Film in die Wohnstube einbrach und als im Gegenzug die Leinwand im Kino immer größer (breiter, höher) wurde, der Ton immer räumlicher usw.
Nun also wird das Kino „digital“, ja „immer digitaler“. Es begann mit dem digitalen Ton, der mitunter läppischen Bildern eine Komponente des Unglaublichen, Hyperrealen hinzufügte, die man zu sehen „glaubte“, dann gab es erste, zaghafte Versuche, Video auf Zelluloid zu kopieren, nun steht der traditionelle Bildträger, die photochemische Emulsion, vor der totalen Ablösung durch den „digitalen Datenträger“. Leute, die es wissen müssen, zum Beispiel Francis Ford Coppola, geben ihm noch ganze vier Jahre.
Coppolas digitale Träume
Coppola ist schon lange ein Pionier des Digitalen im Film. Geboren hatte er diese Idee, als noch niemand davon sprach, in Opposition zu Hollywood: Vor etwa dreißig Jahren verließ er zusammen mit George Lucas Los Angeles als einen verhassten Ort des Geldes in Richtung San Francisco, um dort mittels digitaler Technik, die freilich noch in den Anfängen unbrauchbarer Unvollkommenheit steckte, flexiblere Strukturen zu schaffen, die den Zugriff auf alle für die Herstellung von Film notwendigen Produktionsmittel erleichtern sollten. Coppola träumte davon, Filme zu machen, wie er und nur er sie machen wollte, ohne das Hineinreinreden von der Seite oder von oben, ohne die ständige Angst vorm „Hahn-Abdrehen“.
Coppola war es schließlich auch, der mit „Apocalypse Now“ den ersten Film komplett digital montierte, und zwar vor immerhin schon fünfundzwanzig Jahren. Noch heute bastelt er an seinem Traum: Mitte Juni hat er im Internet eine ganze Plattform, ein digitales Studio, eröffnet, das eine unabhängige Gemeinde von Filmautoren und Regisseuren, Komponisten, Designern zusammenführen will (www.zoetrope.com). Sein alter Freund Lucas verdient inzwischen so viel Geld mit digitalen Special Effects und der Reduktion von Kino darauf (allein letztes Jahr soll er mit „Star Wars“ und dessen Rundumvermarktung 200 Millionen US-Dollar verdient haben), dass, wie Coppola vor kurzem ziemlich melancholisch zu Studenten der kalifornischen Stanford University meinte, „wir alle davon die Filme machen könnten, die wir machen wollen. Aber naja . . .“
Mittlerweile finanziert Coppola seine Träume, vor allem sein Studio, aus einem gut gehenden Weingut im Norden San Franciscos. Im „digitalen Kurs“ positioniert er sich ebenso sicher wie mutig, denn natürlich erhebt sich zugleich ein Glaubenskrieg zugunsten des alten Zelluloids, bei dem der neue Datenträger verteufelt wird. Das erinnert an die Konstellation Vinyl versus CD und an die Beschwörungen von vor etwa zehn, fünfzehn Jahren, der neue Klang sei „zu digital“, zu glasklar – man brauche das Rauschen der Platte (inzwischen werben Vermarkter, wie der Label-Reklamesender „KlassikRadio“, mehr mit dem Attribut „in rein digitaler Klangqualität“ als mit den Namen der Interpreten von klassischer Musik, wird das „Digitale an sich“ – das Medium – zur Botschaft.) Wohl niemand wird im Kino der nächsten Jahre bei neuen Filmen zerkratzte Kopien, Klebestellen, verpatzte Aktwechsel und schlechten Ton vermissen, denn bei der Übertragung eines Filminhalts, der Summe von Bild- und Sounddaten also, wird es weder Verluste noch Verschleiß geben. Für Hollywood ist der eigentliche Motor für die Digitalisierung des Kinos, wie könnte es anders sein, die Distribution. Verglichen mit den Chancen, die sich aus der Verbreitung eines Films auf Magnetband, Festplatte oder gar via Kabel, Satellit oder Breitbandnetze ergibt, sind die Kosten für traditionelle Kopien, deren Versand, Lagerung und Pflege enorm, selbst wenn man die nicht unbeträchtlichen Investitionen dagegenrechnet, die den Abspielmaschinerien demnächst weltweit bevorstehen. Noch heute kostet die einzelne Farbkopie eines gewöhnlichen Films mindestens zweieinhalbtausend Mark, sie wiegt so viel, dass sie für ein erhebliches Porto von Kurierdiensten verschickt werden muss und diese Verschickung eine ebenso kostspielige Logistik nach sich zieht.
Das könnte quasi über Nacht anders werden – daran arbeiten die Majors in Hollywood auf Hochdruck und drängen dabei immer mehr ins gelobte Land des Digitalen, ins Silicon Valley. Da es sich bei diesen letztlich auf Leben und Tod der alten Filmgesellschaften hinauslaufenden Strategien, die weit mehr als nur Planspiele sind, um Radikalkuren handelt, dringt vorerst nicht viel mehr nach außen als eine Vision, immer wieder umrankt von Gerüchten um Mythos und Realität der nahen Zukunft. So arbeitet zum Beispiel die Paramount zusammen mit dem High-Tech-Riesen Hewlett Packard an einer Technologie, die es erlaubt, Filme weltweit via Satellit faktisch zeitgleich zu starten und in die Abspielnetze zu drücken.
Bertolt Brecht hat immer Recht
Ein Film wird also in Los Angeles seine Weltpremiere haben, und es wird dann nur noch der Zeitunterschied zu Berlin oder Kalkutta, Tokio oder Sydney sein, den die Fans abzuwarten haben, um beispielsweise einen neuen Film mit Tom Cruise zu sehen. Dabei ist geplant, die Filme über Satellit auszusenden, vor Ort zu speichern und dann von den Speichermedien abzuspielen. Am Ende gar müssen die Filme nicht mehr weltweit verkauft werden, da sich die Studios die Abspielnetze vor Ort sichern werden.
Neben der Gefahr solcher Monopole birgt die Digitialisierung des Kinos aber auch Chancen, die Brechts visionäre Radiotheorie vom „Zurückfunken des Zuhörers“ einmal mehr ins Gedächtnis zurückrufen. Faktisch kann man heute schon in jedem besseren Elektronikladen eine Mini-DV-Kamera kaufen (ab zweitausend Mark), mit der sich ein quasi professioneller Film drehen lässt. Noch ist für eine Kinovorführung zwar ein Umkopieren auf 35-mm-Film nötig (und recht teuer), aber aus der Mobilität der kleinen Kamera erwachsen Möglichkeiten filmischen Erzählens, wie sie der schwerfällige Studiobetrieb mit seinen überbordenden Filmcrews um eine ebenso schwerfällige Kamera herum bislang unmöglich machten. Die neuen Kameras wiegen kaum mehr als drei, vier Pfund, die Kassetten haben in etwa die Größe einer Streichholzschachtel. Mit „Timecode (2000)“ von Mike Figgis („Leaving Las Vegas“) gibt es nun auch einen Independent-Film, der die Flexibilität der neuen Technik schlau für sich zu nutzen weiß. „Time Code“ meint in der Welt des Videos, noch lange vor der digitalen Ära, die Markierung von Abschnitten auf dem Magnetband, um eine stets auffindbare Zuordnung von Bild und Ton zu gewährleisten – die gute alte Filmklappe, die Synchronpunkte für die separaten Aufnahmen von Bild und Ton setzte, muss nun nicht mehr geschlagen werden. Figgis’ Film spielt mit diesem Begriff, weil er eine Geschichte mit vier Kameras, also vier Bild- und Tonspuren auf einer viergeteilten Leinwand erzählt. Die Handlung, die eine denkbar banale ist (das Treiben in einer kleinen Filmfirma in Los Angeles, mit allen Leidenschaften der am Casting an einem Samstagnachmittag Beteiligten), läuft in einer behaupteten Realzeit ab: Sie beginnt um 15 Uhr und endet ca. 90 Minuten später.
Man sieht also praktisch vier Filme auf einmal und wird dabei lediglich durch das Hervorheben der einen oder anderen Tonspur geführt, die dann auf die eine oder andere Teilhandlung verweist, ohne allerdings die anderen komplett auszublenden. „Timecode“ kommt völlig ohne herkömmlichen Schnitt aus, das Bild reißt nur dann unmerklich ab, wenn eine neue Kassette eingelegt werden muss, was aber kaum auffällt, weil drei andere Handlungslinien weiterlaufen – im Internet vermittelt der Trailer www.timecode2000.com einen kleinen, jedoch ziemlich authentischen Eindruck.
Manchmal kreuzen sich die Handlungsstränge, denn sie laufen in einem Gebäude und um dieses herum ab, so dass mitunter eine Kamera ins Bild der benachbarten Stranges tritt. Auf diese Weise wird eine Story erzählbar, die man sich sonst keine fünf Minuten lang ansehen würde. Ein parodistisches, karussellähnliches Treiben, ein endloser Reigen von tausendmal in und aus Hollywood erzählten Leidenschaften um das Kriegen oder Nichtkriegen von Rollen und Frauen (im Gegenzug) durch Männer und Frauen. Lifestyle (und alles, was sich dafür hält) in Echtzeit. Handys in den Händen der Protagonisten sind hier das Ur-Instrument zur Überbrückung von Ort und Zeit und Einsamkeit. Selbst bei der Vorstellung eines Filmprojekts in der Firma klingelt es am Körper des Bewerbers, werden Mailboxen „sehnsüchtig“ abgehört, beapen Pager usw. Mobiltelefone schließen die Lücke zwischen zwei räumlichen Abständen und lassen die Menschen am Ende doch einander so fern sein. Es ist ein furioses Bild der Hölle entleerter Beziehungen und Rituale. Ein Chaos aus Obsessionen, Tränen, Kokain, Schmutz, Quickies und schließlich sogar einem Mord.
Die neue ungeschnittene Leere
Spätestens seit Antonioni sind Geschichten der dekadenten Leere nicht mehr gültig erzählbar, bei Figgis allerdings bekommen sie durch das virtuose Spiel mit vier Kameras um eine Handlung, die um Grunde keine ist, eine parodistische und damit wieder relevante Dimension. Im Abspann suggeriert der Film, an einem Tag im November 1999 gedreht worden zu sein, in Wahrheit muss man sich die Dreharbeiten wohl eher (da es eben das Kommando „Cut!“ nicht gab) vorstellen wie eine lange einstudierte szenische Handlung in filmischen Räumen, die von einem bestimmten Tag an viermal auf vier vorgezeichneten Pfaden aufgenommen wurde. Mit traditionellen Mitteln wäre das Projekt garantiert unbezahlbar gewesen, mit denen der digitalen Aufnahmetechnik geriet es um vieles billiger als ein herkömmlicher Film.
„Timecode“ ist ein Glücksfall – auf diese Idee kommt man nur einmal, auch wenn unvermeidbar sein wird, dass es jetzt eine ganze Welle von Filmen mit viergeteilten Leinwandformaten geben wird. Figgis’ Film, der seine Premiere stilgerecht im Internet, auf „Yahoo!“ hatte, ist erst der Anfang vom Ende überkommener Erzählformen und -inhalte. „Arte“ spricht bereits etwas vorschnell von „digitalen Blicken“, es sind aber nicht Blicke, sondern Blickfolgen, die Neuorganisierung von Raum und Zeit auf einer Projektionsfläche vor unseren Augen – und das dürfte in den nächsten Jahren zu einer gravierenden Neudefinierung des tradierten Filmbegriffs führen.
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