: Der Krieg um die Agave
Aus einer speziellen Kaktusart wird ein Schnaps gewonnen, der in amerikanischen und mitteleuropäischen Bars Kultstatus genießt: der Tequila. In seiner ursprünglichen Art wird er nur in einer kleinen Region im nördlichen Mexiko angebaut. Konzerne übernehmen immer stärker das Regiment – qualitätsbewusste Bauern bleiben auf der Strecke
von ANNE HUFFSCHMID
Der Mann steckt bis zum Hals im Fass, nur der Kopf ragt aus der braunen Flüssigkeit. Süßlicher Gärgestank liegt in der Luft, alles dampft und stampft in dem riesenhaften Fabrikgewölbe aus Backstein, Holz und Lehmboden.
Stoisch blickt der Arbeiter über den Rand der Holztonne an der Besucherin vorbei, er kennt die verstohlen faszinierten Blicke. Was genau er mit dem Rest seines Körpers tut, ist nicht zu ersehen. Nichts Ungehöriges, wird versichert, er rühre und filtere nur das süße Honigwasser, aguamiel, was bei anderen Herstellern längst die Maschinen machen.
Es ist der Saft für einen Stoff, aus dem allerorten die Träume vom wilden Mexiko sind: Tequila, der Agavenschnaps, einst Göttertrank und „Gleitmittel des Machismo“, so der mexikanische Kulturkritiker Carlos Monsiváis, heute Exportschlager und Modegesöff in den Bars dieser Welt. Ein flüssiges Mexikoklischee, „so scharf, als ob eine rollige Katze deine Kehle herunterläuft“, wie mir ein Kenner vorschwärmte. Und, wenn er gut ist, ebenso geschmeidig.
Gut ist nicht gut genug für Don Felipe, den „good old man“ der berühmten Branche aus Nordmexiko, einer der wenigen, für den die Schnapsbrennerei noch ein Handwerk und keine Industrie ist. Den besten Tequila weit und breit will er machen, keine „Schweinereien“ wie die Massenproduzenten, und deshalb eben auf die altbewährte Art.
Die Augen funkeln in dem sonnengefleckten Gesicht, wenn der alte Herr im hellblauen Kittel mit zittriger Stimme auf die Großen wettert. In kleinen Schlucken schlürft er seinen Kaffee in der Klitsche direkt gegenüber vom Büro des Familienbetriebes El Tapatio, aus dem Radio plärren Mariachigeigen. Er fährt sich verlegen über die silbergrauen Bartstoppeln, auch heute wieder keine Zeit gehabt zum Rasieren, immer muss er raus aufs Feld, nach dem Rechten sehen, tagaus, tagein.
Gerade erst ist er zur Tür hereingeschneit, ganz aufgelöst, weil ein paar Babypflanzen nicht richtig anwachsen wollten. „Der vergisst glatt das Essen“, meint sein Sohn Carlos, neulich sei er in Tokio im Hotelfoyer einfach umgekippt. Tokio? Don Felipe grinst und fährt sich durch das schüttere Haar.
Oh ja, nicht nur der Präsident verlangt gelegentlich nach einem Fläschchen Tesoro de Don Felipe, dem Schatz des Don Felipe, auch Barkeeper in New York sollen ihn schon blind erkennen. Ein paar Kisten der Spitzenmarke „El Paraiso“ werden mittlerweile auch schon an so exotische Plätze wie Japan, Ägypten oder Hamburg verschifft.
Stolz ist Don Felipe vor allem auf die Artikel in „amerikanischen Zeitschriften“, die in einem vergilbten Ordner gesammelt sind und in denen seinem Schnaps das begehrte Fünfsterneprädikat verliehen wird. Den Ruhm sieht man dem verkramten Büro nicht unbedingt an: Aus klapprigen Sekretären quellen die Papierberge, an den schmutzigbeigen Wänden hängen verblichene Bilder von tanzenden Frauen und Lasso schwingenden Sombreromännern. Über allem baumelt eine nackte Glühbirne. Draußen liegt eine kalte, feuchte Morgensonne über dem sanft geschwungenen Land.
Der Regen bringt die Farben zum Leuchten: die rote schlammige Erde, das verschlungene saftige Grün und schließlich dieser bläuliche Schimmer über den Feldern. Überall recken sich die blaugrünen Lanzen der Weberagave, die kaktusartige Mutterpflanze aller Tequilaproduktion, gen Himmel. Don Felipe versinkt fast hinter dem Lenkrad, seinen Pick-up aber lenkt er wendig über die holprige Landstraße, die das Hochland um das Städtchen Arandas zerschneidet. Er kennt den Weg im Schlaf, seit sechzig Jahren, als sein Vater die Fabrik auf freiem Feld mit nichts als einem uralten Mahlstein aus dem letzten Jahrhundert zum Laufen brachte.
Heute werden hier achthundert bis tausend Liter Tequila am Tag produziert – bescheiden im Vergleich zu Großproduzenten wie dem Marktführer Casa Cuervo, der es auf zweihunderttausend Liter bringt. Dafür muss El Tapatio bislang keinen Pfennig für Publicity aufbringen, die Kunde vom Qualitätstequila verbreitet sich von Mund zu Mund. Immer gibt es mehr Bestellungen, als Don Felipe auf Lager hat.
Wir stapfen zwischen Bergen von nassen Agavestrünken, die auf dem Hof noch ein wenig vor sich hin gären, bevor sie auf großen Blechen in die Öfen zum Einkochen gehievt werden. Wieder dieser Geruch, der schon besoffen macht. Drinnen dann werden die weich gekochten Agavenherzen in einem steinernen Rondell von dem schweren Mühlstein, la tahona, so lange zermahlen, bis das Honigwasser austritt. Männer mit freien Oberkörpern balancieren die Bottiche voll aguamiel zum Nackten im Fass; von da aus geht es weiter in die kupfernen Brennkolben, wo der zuckrige Saft zu Alkohol destilliert wird – zwei Mal, bis das wasserklare Nass herausplätschert und in die Behältnisse zur Lagerung geleitet wird.
Überall sind kleine und größere Holzfässer bis unter die Decke gestapelt, alle säuberlich versiegelt nach den Auflagen des Tequilarates, Consejo Regulador del Tequila, eine vor wenigen Jahren gegründete Selbstregulierungsinstanz der Branche. Die neuen Vorschriften von „Papa Staat“, die Messungen über Chemie- und Pestizidrückstände, bringen den alten Tequilero in Rage. Vor allem die Handbücher über Tequilaherstellung, die kürzlich verteilt wurden. „Das ist, als ob ich einem Priester ein Handbuch übers richtige Beten unterjubeln will“, ereifert er sich.
Bedrohlicher als die lästige Bürokratie aber findet der alte Mann die Aussicht, dass es bald gar keine Agave mehr geben könnte. Während wir durch die Felder tuckern, zeigt er zwischen den türkisfarbenen Hainen mit den majestätischen Pflanzen auf die Flecken von Ödland: trostlose Büsche, ein paar halb verdorrte Pflanzen, weithin stoppeliges Feld. Kältewellen, heimtückische Plagen, aber auch die Dumpingpolitik vieler Kollegen, die den Bauern „lächerliche Preise“ für ihre Ernte zahlen, drohen dem Anbau der Agave, auch Mezcal oder Maguey genannt, den Garaus zu machen. „Sie wird eines Tages ganz verschwinden“, sagt er leise, den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet.
Der mächtigen Konkurrenz aus dem Hause Cuervo sind derlei Sorgen fremd. „Sieh mal das Schild“, sagt mir die schöne PR-Chefin Araceli Ramos, die soeben einen Konvoi des britischen Wirtschaftsministeriums durch die tierra del Tequila geleitet, und lächelt ihr verführerischstes Lächeln. „Wilkommen im Land von José Cuervo“ steht da geschrieben, auf einem Pflock mitten in wüstenfarbener Landschaft direkt an der Autobahn durch den Canyon Azul, die blaue Schlucht zwischen der nordmexikanischen Industriemetropole Guadalajara und dem pittoresken Kleinstädtchen Tequila, das mit seinen zwanzig Destillerien als Herz der boomenden Branche gilt. Am Rande einer der riesigen Agavenplantagen der Firma der erste Zwischenstopp. Nachdem die Briten mit zünftigen Strohhüten versorgt sind, stellt uns die große, schlanke Frau im für den Norden typischen Charrolook – streng zurückgekämmtes Haar, weißes Hemd in enger schwarzer Hose – einen wortkargen Mann mit derben Händen vor, den Erntearbeiter Ismael.
La jima, wie die Ernte der Agavenherzen heißt, wird wohl nie und nimmer durch Maschinen ersetzt werden können. Wie Ismael einen Fuß zielsicher in dem stacheligen Gewächs platziert, sich mit dem anderen abstützt und mit einem scharfen Rundspaten, la coa, in Windeseile die schwertförmigen Blätter abschlägt, bis nur noch der ananasartige Strunk, la piña, übrig bleibt, scheint in der Tat eine Kunst für sich. Geerntet wird jeden Tag im Jahr, immer in den Morgenstunden vor der Mittagshitze. So gilt ein jimador nicht nur als besonders geschickter Landarbeiter, sondern zudem als angesehener Agavenexperte. Nur er erkennt an den sich braun verfärbenden Blättern, den pencas, wann eine Pflanze reif ist für die Ernte. Geerntet wird la piña – in der Regel zwischen 35 und 75 Kilo schwer – nach acht bis zwölf Jahren unabhängig von der Jahreszeit und nur einmal in einem Agavenleben. Beschleunigt werden kann die langsame Reifung nicht.
Auch die Fortpflanzung geht bislang in der Regel, allen Genexperimenten zum Trotz, noch natürlich vonstatten: entweder über die kleinen Ableger, die hijuelos, die vom jimador ausgehoben und in neuem Boden wieder eingepflanzt werden. Oder über die Pollen des Blütenstamms, el quiote, der zum Zeitpunkt der Reife aus der Mitte der Pflanze bis zu fünf Meter in die Höhe wächst. Ein paar Dutzend Tonnen geviertelte piñas werden dann in einem gemauerten Steinofen unter Dampf ein bis vier Tage lang weichgekocht, müssen 24 Stunden lang abkühlen und kommen schließlich in eine Mahlvorrichtung, wo das Honigwasser ausgepresst wird.
In riesigen Gärfässern wird das aguamiel ein paar Tage lang mit Hefe vergoren, der Zucker also in Alkohol umgewandelt, bevor dieser in einen Brennkolben aus Kupfer oder rostfreiem Stahl geleitet und dort zweimal destilliert wird, bis, die erste Tequilavariante, der kristallklare vierzigprozentige blanco entsteht. Tequila ist in Mexiko vor allem Tradition. Schon die Berufung zum jimador ist offenbar vererbbar: Seit über dreißig Jahren arbeitet Ismael wie vor ihm Vater, Großvater und Ururgroßvater mit Spaten und Machete in den Agavenhainen. Sein fünfzehnjähriger Sohn freut sich schon auf die erste eigene jima.
Auch sonst steht Traditionspflege ganz oben beim Marketing des Hauses Cuerco, das heute über sechzig Prozent allen Tequilas in die Welt verkauft und sich zugleich auf seine stolze Pioniervergangenheit berufen kann. So war es Firmengründer José Maria Guadalupe Cuervo, der 1795 als erster eine Lizenz zur Herstellung von „Mezcal-Wein“ erhielt. So alt ist auch das Herzstück des Konzerns, das Anwesen La Rojeña im Zentrum des Städtchens Tequila.
In den wuchtigen warmgelben Gemäuern mit ihren geschwungenen Portalen und den verschnörkelten Steinreliefs ist man perfekt auf Besucher eingestellt, mehrmals am Tag werden kostenlose Führungen durch die koloniale Pracht des Geländes angeboten, sechssprachige Broschüren liegen parat. Selbst im Verwaltungstrakt plätschern Kachelbrunnen, stehen vornehm verwitterte Holzmöbel. Die Ahnengalerie der Firmengründer und Urkunden aus aller Welt zeugen vom Reichtum dieser Dynastie, die sich durch alle Zeiten hinweg erhalten hat – so ist eine der Auszeichnungen vom Diktator Porfirio Diaz gezeichnet.
Auch in den sterilen Fabrikhallen sind keine halbnackten Männer zu sehen, sondern blitzblanke Maschinen, riesige stählerne Brennkolben an Stelle der altmodisch anmutenden Kupferkolben, draußen gibt es gar ein firmeneigenes Chemielabor. Nur der Gestank ist der gleiche und der süßliche Dampf, der hinter den hölzernen Ofentüren hervorquillt. Auf einem Laster werden die ausgepressten Agavenfasern entsorgt, bislang nur als Müll oder minderwertiges Viehfutter, das – nach prähispanischem Vorbild – allerdings vielseitig genutzt werden könnte: als Füll- und Baumaterial, für Stoffe und Papier.
Schließlich werden die erlauchten Besucher ins Allerheiligste geladen, die alte Familienresidenz, eine Art Modellhacienda des Tequilaimperiums. Zwischen akkuraten Blumenbeeten stehen Skulpturen; Steintreppchen und Zierbrunnen schmücken das knallgrüne Gras. Mexico de luxe, mit allen Klischees wird aufgewartet. Auf einer Miniarena führt ein sombrerobewehrter Charro Kunststücke mit dem Lasso vor, begleitet von den deftigen Klängen einer Mariachicombo, als Aperitif werden verschiedenfarbige Margaritas gereicht. Begrüßt hatte die PR-Dame die weit gereisten Gäste mit der berühmten mexikanischen Floskel: „Mi casa es su casa“ – mein Haus ist dein Haus.
Beim Mittagsmenü klärt mich dann mein Tischnachbar, ein englischer Botschaftsangestellter, mit kühlem Lächeln darüber auf, dass dieser Satz wörtlicher als gedacht zu verstehen ist: 49 Prozent des ach so mexikanischen Unternehmens sind längst in britischer Hand. Das ist für einen wie Jorge Camacho, der lange Zeit bei den Topfirmen der Branche in den höchsten Etagen tätig war und seit kurzem seine eigene Marke („La Querencia“) lanciert, weder Sakrileg noch Vaterlandsverrat. „Die Fabriken, die nicht englisch sprechen, sind jetzt schon tot.“ Das Image der Familienbetriebe sei ohnehin eher „Fassade“, und daher wird der smarte Mann im gut geschnittenen Anzug gar nicht erst aufs Prinzip des Patriarchen, sondern auf das der Produktivität setzen.
So riecht es im Konferenzsaal des gläsernen Neubaus am Rand von Guadalajara auch höchstens nach dem Rasierwasser der Angestellten, nicht nach gegorener Agave. Mit der kommt man bislang auch gar nicht in Berührung. Die eigene Fabrik sei „noch im Bau“, die Marke aber schon im Umlauf, also just eine jener Phantommarken, die den Rohschnaps im Fass aufkaufen und unter eigenem Namen vertreiben. Für Traditionalisten ist das Etikettenschwindel, Camacho aber zuckt die Schultern – für ihn ist der Tequila letztlich ein Geschäft wie jedes andere.
Das allerdings verlangt nach neuen Marketingstrategien. Wie beispielsweise dem von „La Querencia“ gesponserten Tequilaexpress, eine Art Butterfahrt auf mexikanisch, bei dem 250 zahlende Gäste in einem umgebauten Kurzzug einen feuchtfröhlichen Tag lang durch die tierra del Tequila kutschiert werden. Treffpunkt ist Samstagmorgen an der orange gekachelten Bahnhofshalle in Guadalajara; während alle sich ihre verschiedenfarbene Plastikausweise um den Hals hängen, spielt wieder – eine schier unvermeidliche Geräuschkulisse in diesen Gefilden – ein Trupp schwarz gewandeter Mariachis zum Gutenmorgen auf.
Weiß livrierte Kellner nehmen die Fahrgäste an den Türen in Empfang („Welcome to the Agaveland“). Während der Zug langsam durch die Felder anrollt, kommen auch die Reisenden allmählich in Fahrt. Tabletts mit Mixgetränken werden herumgereicht, pur gibt es den Schnaps zu dieser Tageszeit dankenswerterweise nur auf Anfrage, die blutjungen Musiker arbeiten sich mit angestrengtem Lächeln durch die engen Sitzreihen, und die gute Laune verbreitet sich wie eine Sommergrippe.
Binnen einer Stunde tanzen schon die ersten Reisenden im Gang, spitzes Kreischen wechselt sich ab mit frenetischem Beifall, während draußen weitgehend unbeachtet die herbe Weite Jaliscos vorüberrauscht.
Majestätische Kakteen und halb verfallene Haciendas unter dramatischer Wolkenpracht. Am alten Bahnhäuschen von Tequila entleeren sich die Waggons auf die Gleise, kurzes Ah und Oh zur dargebotenen jima-Show, weiter geht’s zur Volkstanzvorführung auf der Plaza, ein kleiner Rundgang durchs Museum und die älteste Destillerie des Städtchen, zum Abschluss des Kulturteils werden alle durch einen gruftigen Lagerkeller geschleust. Eine riesige, aufblasbare Flasche Marke „La Querencia“ weist schließlich den Weg zum Buffet auf einem blumenumwachsenen Landsitz, mit dem Tequilakonsum steigt auch die Bereitschaft der mitfahrenden Gringos zum Tanz. Schließlich befindet man sich in swinging Mexico – und hat fast fünfzig Dollar dafür gezahlt.
Die Animateure bieten ein bescheidenes Sketchrepertoire, Perückenimitate mexikanischer Schlagerstars oder am Tropf hängende Alkis, die auf eine Tequilatransfusion warten. „Was für ein Bild geben die Mexikaner da wieder von sich“, flüstert eine junge Frau ihrem Freund ins Ohr. Doch kaum einer scheint ihre Befremdung zu teilen, man ist gut drauf und allgemein wild zum Amüsement entschlossen. „Are you having fun?“, brüllt einer ins Mikrofon, die Antwort darauf fällt unmissverständlich aus. Pünktlich um sechs ist der Spuk vorbei, alle werden in nach den Farbkärtchen vorsortierten Gruppen in die Waggons verfrachtet. Der Zug gleitet sicher in die Abenddämmerung von Guadalajara.
Auch Julian Rodriguez findet, dass Tequila im Grunde ein „ganz wundervolles Getränk“ sei. Und den lustigen Gruppenausflügen auf die Plaza des nach dem Schnaps benannten Kleinstädtchen – oder ist es umgekehrt? – wohnt auch der gut aussehende Mittvierziger jeden Samstag bei. Allerdings eher unfreiwillig, weil hinter den Gittern des schmuddligen Dorfgefängnisses, direkt am Hauptplatz von Tequila.
Während die Expressreisenden die Röcke schwingenden Damen beim Tanz bewundern, berichtet der Agavenbauer wenige Meter entfernt von der Kehrseite des Geschäfts. „Ich bin hier, weil ich mein Hab und Gut verteidigt habe“, sagt Rodriguez mit ruhiger Stimme und umfasst mit der Hand einen der Gitterstäbe vor seinem Gesicht. „Wir sind zwar der wichtigste Teil der Produktionskette – aber wir haben gar nichts vom Boom.“ Sein ganzes Leben hat der Landwirt dem blaugrünen Gewächs gewidmet. Seine sechzig Hektar hätte er gerne seinen vier Kindern weitervererbt. Heute liegen die Felder brach, die Ernte ist kaputt – und Rodriguez sitzt nach vielen Monaten im Untergrund als vermeintlicher Rädelsführer im Knast. Sein Vergehen: Er habe einen großen Schnapsfabrikanten gezwungen, seine Schulden zu bezahlen. Als das Tequilafieber in den Achtzigerjahren ausbrach und alle Welt nach dem kostbaren Rohstoff verlangte, hatte auch er Kredite aufgenommen und alles in den Agavenanbau gesteckt. Zehn Jahre später, als die Pflanzen endlich reif waren, hieß es plötzlich: Überproduktion. Die begehrten Agavenstrünke sollten weniger als die Hälfte wert sein, viele Hersteller waren nicht bereit, sich an die verabredeten Preise und Mengenabnahmen zu halten. Bauern wie Rodriguez faulten ihre reifen Agavenherzen weg, von fast fünftausend Tonnen konnte er in drei Jahren eben vierhundert verkaufen. So nahm der so genannte Agavenkrieg seinen Lauf: Die erbosten Bauern organisierten sich, riefen zu Straßenblockaden und Hungerstreiks auf und karrten den Firmen tonnenweise verfaulte piñas vor die Werkstore. Während diese lediglich die bäuerliche „Fehlplanung“ bedauerten und Anzeige gegen die Unruhestifter erstatteten, starteten viele zugleich Joint Ventures mit transnationalen Spirituosenkonzernen und begannen, wie Casa Cuervo, selbst mit dem Anbau des zackigen Gewächses. Damit wurde die althergebrachte Arbeitsteilung zwischen tequileros und agaveros aus der Balance gebracht.
Zwar rächt sich die spekulative Marktlogik nun in einer akuten Knappheit, der nach Expertenschätzungen schon in naher Zukunft ein Viertel der Produktion zum Opfer fallen wird. Bei Familie Rodriguez will die rechte Genugtuung darüber nicht aufkommen. „Es ist bitter, nach zehn Jahren alles zu verlieren“, sagt Ehefrau Ofelia, als sie mich wieder vor die Gefängnistür begleitet. Von der Plaza trompetet der Mariachi.
Der Historiker José María Muría warnt vor allem davor, den Tequila nur als Folklore zu sehen. Ein alter Mann habe mal gesagt, erinnert sich der Leiter des renommierten Jalisco-Kollegs, dass der Agavenschnaps „kein Erbe der Großeltern, sondern eine Anleihe bei unseren Kindern“ sei. So ähnlich sieht das wohl auch Don Felipe. Und er will seinen Söhnen deshalb, Tradition hin oder her, vor seinem Ableben noch eine funkelnagelneue Fabrik hinstellen.
Voller Stolz schlurft der gebeugte Herr durch die Gerüste, Ziegelhaufen und halbfertigen Mauern, aus denen direkt neben den dampfenden Holzbottichen ein neues Tequilazeitalter aus Fließbändern, Aluminiumbecken und Flaschenzügen entstehen soll. Auch eine Abfüllmaschine („deutsche Firma!“) wartet, bislang noch eingepackt, auf ihren Einsatz – bis jetzt wird noch jede Flasche aus dem Hause Tapatío per Hand abgefüllt und verkorkt.
Seine Leute seien „schon ganz besorgt, dass sie ihren Job verlieren“, kichert der alte Mann, während er mich galant an der Hand nimmt und über die morschen Holzbalken der Baustelle führt. Aber für die 150 Angestellten werde man „schon was finden“. Der Zahn der Zeit nagt eben auch an den Schätzen von Don Felipe. Und der kann rechnen: Auf die alte Tour produziert er mit zwanzig Arbeitern höchstens tausend Liter am Tag, mit den neuen Maschinen könnte es mit der Hälfte an Arbeitskräften auf Anhieb mehr als das Zehnfache sein. Die Crux: „Für das Neue interessiert sich ja niemand.“
Reporter aus aller Welt wollen immer den Mann im Holzfass fotografieren, beschwert er sich. Die Vertreterin einer Vertriebsgesellschaft aus Detroit sei neulich gar in Tränen ausgebrochen, als sie erfuhr, dass nun die uralten Mauern der traditionellen Fabrik abgerissen werden sollen. Ob er selbst denn gerne alles Alte abreißen würde? Don Felipe streicht sich einen Moment lang mit der flachen Hand über die glänzende Glatze. „Wir werden es halt noch eine Weile erhalten, weil die Amerikaner nicht wollen, dass es verschwindet“, sagt er dann. Und blinzelt listig, so, als fände er das selbst ziemlich paradox.
ANNE HUFFSCHMID, 35, berichtet als Korrespondentinfür die taz aus Mexiko
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