Der Kitzel der Wissenschaft

Ein ungeheuer mysteriöser Vorfall im Dienste der taktilen Körperforschung

Ein Mann rief an. Stimme und Tonfall wiesen ihn als jemanden aus, der in seiner Kindheit nur selten blutige Knie hatte. „Hallo, ich bin der Dietmar“, sagte der Mann. „Ich bin Biologiestudent, Schwerpunkt Humanbiologie, und schreibe gerade meine Examensarbeit über das Kitzeln. Ich will da einen empirischen Teil anhängen und wollte hören, ob du Lust hast, mir ein paar Fragen zu beantworten. Deine Nummer habe ich übrigens von deinem guten Freund X. Y. Der hat auch schon mitgemacht.“

Ich erklärte mich bereit. Viele Fragen drehten sich erstaunlicherweise um das Thema Ziege: „Hast du schon mal davon gehört, dass man Leuten die Fußsohlen von einer Ziege hat ablecken lassen, um sie zu kitzeln?“ Der Forscher wollte noch weitere bizarre Auskünfte: „Wen würdest du jetzt in diesem Moment gern durchkitzeln?“, oder „Wenn du einen Film drehen würdest, in dem eine Szene mit Kitzeln vorkommt, wie sähe die aus?“. Am Ende bedankte ich mich bei meinem Interviewer mit zwei weiteren Telefonnummern, wünschte ihm viel Glück und legte auf.

Einige Tage später meldete sich Dietmar überraschenderweise erneut bei mir, diesmal mit weiter gehenden Wünschen. Er würde gern seine Thesen am lebenden Objekt erhärten, der Erhebung das Experiment zur Seite stellen – sprich: mich durchkitzeln. Am liebsten wär es ihm, wegen des großen Zeitdrucks, jetzt gleich. Ich stimmte zu, und bei seinem Eintreffen war die Freude umso größer, als er auch meinen Mitbewohner vorfand. „Ein Gruppenexperiment!“, rief er laut. Gesagt, getan: Der Versuchsaufbau war denkbar einfach. Wir mussten uns auf das Bett legen, dann packte er den Inhalt seiner Arzttasche aus und präsentierte uns die Kitzelgeräte, vornehmlich Bürsten und Stöckchen, mit denen er unsere Füße zu bearbeiten gedachte. „Ich fessle euch jetzt an den Fußknöcheln mit dem Gürtel vom Morgenmantel hier, und ihr sagt, ob das kitzelt, was ich dann so mache.“

Es kitzelte teilweise schon sehr. Sein Theorem, dem zufolge Feuchtigkeit taktile Reize verstärkt, konnte eindrucksvoll verifiziert werden. Danach fühlten wir uns wie nach Sauna, Sport und Saufgelage auf einmal. Dietmar schien sehr gelöst und mit den Ergebnissen zufrieden. Anschließend verschwand er recht schnell, denn („Huch, schon halb zehn?“) seine Frau warte bestimmt schon auf ihn. Wir sahen ihm noch lange nach.

Einige Tage später auf einer Party erzählten wir den Gästen von dem Kitzelforscher, bis ein Neuankömmling plötzlich nach kurzem Zuhören bemerkte: „Der studiert gar nicht! Und ne Frau hat der auch nicht. Das is’n Schwuler aus Bonn. Kennt da mittlerweile jeder.“ In diesem Moment begriffen wir schlagartig, dass selbst die kniffligsten Probleme moderner Menschen gelöst werden können: „Wie helfe ich mir als Kitzelfetischist?“ – Natürlich allein durch die Wissenschaft. JENS FRIEBE/
CARSTEN BITZHENNER