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Auf der Suche nach der verlorenen Dichterin

Die Blaskapelle lärmt, die Menschen am Bahnsteig schwenken Fähnchen, und Christoph Stölzl freut sich in astreinem Englisch, dass die Autorinnen und Autoren die Fahrt über „sru sick and sinn“ zusammengehalten haben: Der Literaturexpress ist von seiner Europareise zurück. Aber wo ist Felicitas Hoppe?

Ist sie in Petersburg zurückgeblieben? Hat sie sich gar in Warschau verliebt?

von VOLKER WEIDERMANN

Hört doch mal auf, Kinder. Mensch. Hauen sich da ständig orangefarbene Literaturexpressluftballons auf den Kopf. Und lassen die Blaskapelle nicht durch, die von unten, die Rolltreppe hinauf, auf den völlig überfüllten Bahnsteig drängt.

Hier ist was los, sage ich Ihnen, Freitagabend auf Bahnsteig vier vom Bahnhof Friedrichstraße. Auf der Anzeigetafel steht: „Literaturexpress. Dieser Zug endet hier.“ Und bestimmt tausend Menschen sind gekommen, um die über hundert Dichter aus 43 Ländern, die 40 Tage lang im Zug quer durch Europa unterwegs waren, in Empfang zu nehmen. Und ich, ich bin gekommen, um Felicitas Hoppe in Empfang zu nehmen, unsere Postkartenreisende durch die Welt. Aber wie werde ich sie in diesem Menschengetümmel nur finden?

Und das wird noch viel aufgeregter. Jetzt nämlich, als eine sehr bezaubernde Fee in grünem Gazekleid, Efeublättern im roten Haar und Sternenstaub um die Augen in ihr rotes Megafon hineinruft: „Der große Literaturexpress rollt ein.“ Da fängt die Blaskapelle an zu lärmen, aufgeregte Organisatoren rufen schwitzend in ihre Funkgeräte: „Stefan, wo bist du? Stefan, melde dich, verdammt!“ Ein Mädchen ruft in fremde Handygespräche „Philipp, ich liebe dich!“ hinein, und da kommt auch wirklich schon der Dichterzug. Alle jubeln, schwenken Literaturexpressfähnchen, Christoph Stölzls Glatze glänzt im Gemenge, die Dichter winken aus den Fenstern und sehen sehr glücklich aus, eine picklige Journalistin im grauen Kostüm notiert in ihren Block: „Großer Jubel bei der Einfahrt des Zuges.“

Für so feinsinnige Notizen habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss Felicitas suchen. Wo ist Felicitas? Alle winken aus den Fenstern. Felicitas soll auch winken. Aber sie winkt nicht. Oder habe ich sie übersehen? Auf dem Bahnsteig ist der Teufel los. Alles ist voll von Dichtern und Dichterangehörigen und Dichterfreunden. Finnische Radiomoderatoren haben ihre Heimatschriftsteller schon gefunden und führen geheimnisvolle Interviews; Fotografen, Mikrofonträger und Kameramänner suchen alle Kultursenator Christoph Stölzl, der aber gar nicht zu übersehen ist und gerade auf Englisch erläutert, dass er froh ist, dass die Autorinnen und Autoren „sru sick and sinn“ zusammengehalten haben.

Der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy ist, wie ich, auf Dichtersuche. Der junge Herr, den er dann allerdings sehr schnell gefunden hat, scheint sein Sohn zu sein: glückliche Zusammenführung einer Dichterfamilie im Getümmel. Nur ich, ich suche immer noch. Das kann doch nicht wahr sein. Ist sie vorzeitig geflohen? Einfach aus dem Zug gestiegen? In Petersburg zurückgeblieben? Hat in Moskau, Warschau sich verliebt? Und uns nichts davon geschrieben? Nein. Mitreisende bestätigen: Sie war bis zum Ende immer mit dabei. Von Fluchtgedanken weiß man nichts. Aber wo ist sie dann jetzt?

Der Tross setzt sich in Richtung Berliner Ensemble in Bewegung, der Bahnsteig leert sich, niemand bleibt zurück. Da mache auch ich mich auf in Richtung großer Empfang auf der Probebühne des BE. Aber da ist es noch viel voller. Claus Peymann erläutert, dass es kein Zufall ist, dass der Literaturexpress gerade am Jahrestag der Französischen Revolution angekommen sei, ein Repräsentant des Literaturexpress-Sponsors Deutsche Bahn berichtet stolz, dass man bei der Zugfahrt Berlin-Stuttgart statt eines 600-Seiten-Romans, wie noch 1990 nun nur noch einen 300-Seiten-Roman lesen könne, es gibt Schnittchen und Bier in Sektgläsern. Und einer der Organisatoren bietet mir doch tatsächlich an, zu einem späteren Termin am Abend an einem Sammelinterview mit Felicitas Hoppe teilzunehmen. Zusammen mit Kollegen von der Stuttgarter Zeitung, vom Deutschlandfunk und anderen.

Aber so, nein, so will ich unsere Postkartenreisende nicht wieder sehen. Da bleibt die letzte, die Ankunftspostkarte, die ich ihr zum Abschiedsgruß überreichen wollte, lieber unbeschrieben. Was ich sagen wollte, kann ich ja auch hier schnell schreiben: „Willkommen zurück, Felicitas Hoppe!“ Wo immer du an diesem Abend auch gewesen sein magst.

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