: Die Show geht weiter
Nach dem Abgang der Hauptdarstellerin Renate Wallert will der nächste Akt für die begierige Weltöffentlichkeit inszeniert sein
BERLIN taz ■ Für die Deutschen hatten die Untaten der islamistischen Guerilla von Jolo ein Gesicht: das der leidenden Renate Wallert. In der 56-jährigen Flötenlehrerin aus Göttingen, die zwölf Wochen im Dschungel mit Kreislaufproblemen zu kämpfen hatte und nun freigekommen ist, treffen sich die Inszenierungsbegehren der Entführer und der Medien. Die Entführer wollen mit möglichst wenigen Mitteln möglichst viel Druck ausüben – und für die ausländischen Medien, ob Boulevardzeitung oder Nachrichtenmagazin, scheint das menschliche Leid von Landsleuten das einzige Thema zu sein, das ihre Konsumenten für die Guerilla einer winzigen philippinischen Insel interessieren könnte.
Dass dabei die politischen Forderungen der Entführer, die Situation im Land, nicht annähernd so wichtig erscheinen wie der aktuelle Blutdruck und Stuhlgang der Wallerts, macht den Entführern gar nichts. Erpressung wirbt nicht um Legitimation. Entscheidend ist für die Abu Sayyaf, dass der Druck aus dem Ausland ausreicht, um die eigene Regierung von einer militärischen Lösung abzuhalten.
Ohne die internationalen Medien hätte das alles nicht funktioniert. Moderne Propaganda in Konfliktsituationen besteht längst nicht mehr in der Veröffentlichung von Stellungnahmen und Interpretationen der jeweiligen Führungen. Vielmehr geht es darum, Nachrichten so zu inszenieren, dass Journalisten sie reproduzieren, die sich völlig unabhängig wähnen und das, was sie tun, für Recherche halten.
Die Entführer in Jolo haben dieses Bewusstsein bei den Presseleuten noch dadurch gestärkt, dass sie ihnen Geld abverlangten. Es hat geklappt. Regelmäßig konnte sich die deutsche Öffentlichkeit mit neuen Bildern der Renate Wallert, die französische mit Fotos ihrer gefangenen Landsleute beschäftigen – aufbereitet als Daily Reality-Soap, mit dem Hauch unbegrenzter Authentizität.
Damit das im Sinne der Inszenierungen beider – der Entführer und der Medien – klappt, bedarf es noch einer zweiten Ebene: Gebraucht wird eben genau eine Familie Wallert. Objektiv gehört ein deutsches Lehrerehepaar im weltweiten Vergleich zu den Besitzenden. Aber die Wallerts (dpa: „reisefreudig und beliebt“) sind einfache Leute, keine Prominenz, keine Schwerindustriellen, deutsche Touristen wie du und ich. So trafen die Bilder der leidenden Renate Wallert auf ungeheucheltes Mitgefühl – und ein bisschen Stolz. Wer entführt wird, ist wichtig – wir Deutschen sind es.
Jetzt ist Renate Wallert frei – schluchzend und widerwillig verließ sie Mann und Sohn „ausgerechnet an ihrem 34. Hochzeitstag“, wie die Agenturen in der heutigen Folge von „Gefangen auf Jolo“ vermelden. Die Vorführung geht weiter, aber nach dem Abgang der Hauptdarstellerin will der nächste Akt neu inszeniert sein. Inzwischen haben die Entführer die Medien ein wenig verschreckt – da müssen die Guerilleros etwas unternehmen. Es sollte niemanden wundern, alsbald neue Bilder aus dem Camp zu sehen, mit Berichten über einen gesundheitlich angeschlagenen Ehemann Wallert, der herzzerreißende Briefe an seine Frau schreibt. Ob Renate Wallert auch einen Exklusivvertrag mit Sat.1 abschließt wie ihr in Deutschland verbliebener Sohn, war wenige Stunden nach ihrer Freilassung erstaunlicherweise noch nicht bekannt. BERND PICKERT
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