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Kleine Lilienthalerei

„Vom Küssen und vom Fliegen“ (20.15 Uhr, ARD) zeigt die 50er-Jahre als Spätpubertierenden-Märchen mit zartbrauner Patina in einem fernen Land

von CHRISTIAN BUSS

Schuld ist nur das Fernsehen. Kaum steht der Kasten im Wohnzimmer, bekommt Vater Finkenbeiner (Hans Teuscher) auch schon einen Herzinfarkt. 1954 war man in der deutschen Provinz eben noch nicht darauf vorbereitet, via TV an Ereignissen wie der Fußball-WM teilzuhaben. Wird dann auch noch gesiegt, kann einen das schon mal aus den Puschen hauen.

Vor allem,wenn man wie Finkenbeiner dem Erscheinungsbild der Heimat im Ausland äußerste Wichtigkeit beimisst. Der Fabrikant von Sargbeschlägen hat jedenfalls seine ganz eigenen Techniken entwickelt, um der Welt die Optik eines stolzen, aber auch heiteren Deutschlands zu vermitteln: Wann immer er ein paar amerikanische Touristen herumknipsen sieht, marschiert er freundlich lächelnd im Hintergrund auf und ab – zu Hause in den USA, so sein Kalkül, wird man sich dann mit jedem Foto an der neuen Herzlichkeit des einstigen Feindes erfreuen können.

Zur Zeit aber liegt Finkenbeiner – vom WM-Sieg übermannt – im Krankenhausbett und sorgt sich ums Erbe. Drei Söhne hat er, als Nachfolger taugt keiner. Einer hat „was am Kopp“, die beiden anderen sind Spätzünder. Da bleibt dem Fabrikanten nichts anderes übrig, als einen Wettbewerb auszurufen: Wer ihm als erstes einen Stammhalter präsentiert, übernimmt den Familienbetrieb. Doch alles, was Kurt (George Lenz) und Erwin (Johann von Bülow) über Frauen wissen, haben sie aus den Anatomiebüchern, mit denen sie sich unterm Streifenpyjama Triebabfuhr verschaffen. Und es gestaltet sich schwierig, die Lehre in Taten umzusetzen. Der etwas begriffsstutzige Bruder Fritz (Felix Eitner) hat indes bei den Kriegerwitwen des Kaffs schon Erfahrung gesammelt. Er ist ein echter Freigeist – ein ungekämmter Ikarus, der sich aus seinem Fahrrad ein abenteuerliches Fluggerät baut.

„Vom Küssen und vom Fliegen“ ist ein Märchen. Regisseur Hartmut Schoen („Warten ist der Tod“), von Haus aus Dokumentarfilmer, inszeniert Deutschland in den Fünfzigerjahren wie ein fernes Land aus einer anderen Zeit. Vom Zeitgeschehen ist allenfalls ein schwaches Echo zu vernehmen: So erfährt der Zuschauer eher nebenbei, dass „die Roten“ zum Unmut ihrer Nachbarn eine Versammlung in der Gastwirtschaft abhalten, und die Besitzerin des Krämerladens um die Ecke lässt sich wie jedes Jahr zum Todestag ihres gefallenen Mannes vollaufen. Ansonsten nimmt sich die kleine, heile Welt wie ein Abenteuerspielplatz für Spätpubertierende aus: Mit beschlagener Brille spannt Kurt aus der Gerätekammer in die Sporthalle der Mädchen. Später lässt er sich von einer jungen Lehrerin auf der Schulbank verführen. Seinem Bruder, mit dem er im Stammhalter-Wettstreit steht, wiederfährt Ähnliches – mit der gleichen Frau. Denn die offenherzige Paukerin ist nur ein armes Ding, das sich alle reichen Jüngelchens des Ortes vorknöpft, um von ihnen Geld zum Abbruch einer vermeintlichen Schwangerschaft zu erpressen. Bald ist die Schöne über alle Berge – und weht nur noch einmal in Form einer Pin-up-Postkarte zurück in den provinziellen Mief.

Wie überhaupt alle, die sich aus der Welt dieser kleinen Familienmanufaktur verabschieden, auf braunstichigen Fotos ihren letzten Auftritt haben. Nur Fritz bleibt zurück, und er wirkt dabei überhaupt nicht unglücklich.

Denn als quasi reiner Charakter setzt er reichlich Nachwuchs in die Welt und erfüllt damit als einziger die Auflagen des gestrengen Vaters. So will es nun mal die Logik des Märchens.

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