: Der falsche Schlüssel im falschen Schloss
Visionsliberalismus der entschiedenen Art oder die Gnade der späten Geburt. Dank Gentech soll Tony Blairs Baby 30 Jahre länger leben
von STEPHAN GEENE
Seit der Präsentation des (quasi) vollständig entschlüsselten menschlichen Genoms am 27. Juni im Weißen Haus ist in allen Medien wieder Visionsliberalismus entschlossenster Art am Zuge. US-Präsident Clinton sparte nicht mit historischen Vergleichen und – auf den biologischen Standortvorteil der Familie Blair anspielend – beglückwünschte das Baby des britischen Premiers zum gentechnisch assistierten Plus von 30 Jahren Lebenserwartung: Heilung von Krankheiten, mehr Lebenserwartung für alle und alles dank der Entschlüsselung des menschlichen Genoms – noch mal ein Grund, mit New Labour auf die Zukunft zu bauen.
Worauf gründet sich eigentlich die Annahme, Gentechnologie werde – wie Clinton meint –Krebs verschwinden lassen oder Leben verlängern? Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts folgen auf neue Erkenntnisse über die Molekularstruktur lebendiger Zellen und den Aufbau von Proteinen reflexhaft Vorhersagen kommender „Durchbrüche“. Vergeblich, weitestgehend, denn die zentralen Krankheiten warten noch immer auf ihre Therapieformen, und die tatsächlichen Fortschritte in der Krebs- oder Aidsbehandlung leiten sich aus den Erfahrungen ab, die im Umgang mit konventionellen Medikamenten gewonnen wurden. Und dennoch sitzt die Überzeugung, dass der „Gen-Code die Sprache des Lebens“ sei, tiefer als alle Zweifel und impliziert – scheinbar logisch – mit der Sprachwerdung des Biologischen auch seine Steuerbarkeit.
Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, scheint sich dieser Logik anzuschließen, wenn er in der FAZ-Beilage der International Herald Tribune das Ende des kulturalistischen Feuilletons fordert und den Beginn der naturwissenschaftlichen Kulturkritik. Grund: Die Naturwissenschaften seien neue Leitwissenschaft, und wenn sie über die Grundlagen von Leben, Verhalten und Denken verfügen, dann betrifft das auch die Parameter, mit denen Opern, Kunst, soziale Verkehrsformen oder neue Fernsehserien zu diskutieren sind.
Aber die Natur- oder Biowissenschaften sind weit davon entfernt, über eine „Sprache des Lebens“ zu verfügen. Schon in der Theorie ist die Zellreplikation ein Prozess mit einem zeitlichen Verlauf, einem „Atmen“, das „umgebungssensibel“ ist, also von äußeren Einflüssen mitbestimmt. Die DNA der Zelle „codiert“ nicht nur die Proteinbildung, sondern auch deren „Faltung“. Diese räumliche Struktur gilt seit dem BSE-Skandal als verantwortlich für die Wirkungsweise mancher Proteine, mit denen – nun als Prionen begriffen – wenig durchschlagend versucht wurde, BSE zu erklären. Die Theoriebildung verdrängt dabei ihre eigene Unabschließbarkeit ebenso wie die Unüberbrückbarkeit zwischen biologischen Modellen, Laborbedingungen und Lebenswelt.
Die Biotech-Revolution ist eine kulturelle
Die „biotechnologische Revolution“ ist daher immer noch das, was sie seit 20 Jahren ist: eine kulturelle. Die Gleichsetzung von Biomasse und Datenverkehr, die die heutige Forschung prägt, ist kulturell motiviert und basiert auf einer Verwechslung: Aus der Computerentwicklung, deren Datenverarbeitungskapazität Grundvoraussetzung für die heutige Bioforschung ist, wurde das Modell des von den Biowissenschaften zu untersuchenden Gegenstands selbst.
Es könnte mit gleichem Recht die Einführung der Kulturwissenschaften auf die Wissenschaftsseiten gefordert werden. Beispielsweise um dort zu reflektieren, wie das „starke Paradigma“ der Gentechnologie sich nach den Rückschlägen in der somatischen Gentherapie – also dem Eingeständnis, dass sich entwickelte Zellen im Patienten nicht wirklich „reparieren“ lassen und die Möglichkeiten der Heilung erkrankter Menschen auf diesem Wege nicht aussichtsreich erscheinen – nun auf die Manipulationen vor der Befruchtung projiziert und damit gerettet wird. In diesem psychologisch sensiblen wie kulturell aufgeladenen Bereich stellen biotechnologisch hergestellte Klone und transgene Tiere Ikonen einer technologischen Potenz dar, die tatsächlich in keiner Weise gegeben ist. Das Problem der Zielungenauigkeit sucht die gentechnologischen Versuche auch da heim, wo sie auf das Genom vor der Implantation zugreifen. Unzählige Versuche, eine Eizelle zu entkernen und mit einem neuen Kern zu versehen, fehlschlagende Versuche, diese in einer „Leihmutter“ zu implantieren, Abgänge des Embryos, Fehlbildungen und Totgeburten, all das kommt in den Medienbildern des angeblich gelungenen Klons nicht mehr vor. Wenn am Ende eine „gelungene“ Geburt steht, dann ist wissenschaftlich nicht mal klar, woran das lag.
Dolly, das geklonte Schaf, könnte auch durch eine zum Zeitpunkt der Zellentnahme nicht erkannte Schwangerschaft des Spendertiers zustande gekommen sein, das mussten die ForscherInnen am Edinburger Roslin-Institut einräumen. Deshalb sei vielleicht in diesem Moment geglückt, was sonst schwer oder nicht nicht möglich ist, nämlich die Rückbildung von ausdifferenzierten Körperzellen in embryonale Zellen, die noch „totipotent“ sind, also zur Entwicklung von allen Funktionen fähig. Schon die Theorie ist hier widersprüchlich: Wenn das Umfeld des Zellkerns, in den das Genom gegeben wird, diesen DNA-Strang erst zurückverwandeln muss, wie wichtig ist dann dieser DNA-Strang überhaupt? Ist er nicht, wie die Theorie der Epigenese von Richard Strohman schon lange behauptet, keineswegs zentral, was hieße, dass ein Klon überhaupt kein Klon im strengen Sinne ist.
Der Arbeit in der Zelle lässt sich eben nicht in vivo zugucken, auch nicht durch „DNA-Chips“ oder andere „Biomonitore“. Die Betrachtung verändert das Betrachtete, das ist immer noch so. Die relative Undurchsichtigkeit des Mikrobiologischen wird auch durch die vollständige Entschlüsselung des Genoms, seine „Kartierung“, nicht aufgehoben. Jacques Testart, französischer Entwickler der künstlichen Befruchtung in der Tierzucht und heutiger Gentechnologiekritiker, problematisiert die Idee der Karte grundsätzlich: Ihr fehle die zeitliche Dimension, um die Bewegungen und Veränderungen aufzuzeichnen. „Springende Gene“, die ja seit einigen Jahren bekannt sind, können etwa in diese „Karte“ nicht eingezeichnet werden. In welchem Verhältnis kann überhaupt „das“ menschliche Genom erfasst werden, wenn gerade die genetische Einzigartigkeit ein so wichtiger Bestandteil genetischer Identität beispielsweise für den „genetischen Fingerabdruck“ ist? Welcher Typ Genauigkeit wird bei der Entschlüsselung anvisiert? Was kann bei einer Ordnung einer Abfolge bei drei Milliarden Elemente überhaupt gedacht werden?
Der Typ Ordnung kann sicherlich nicht mit der Ordnung verglichen werden, die zwei Städte in Nachbarschaft versetzt oder eine Küstenlinie makrostrukturell abbildet. Jeder Umgang mit der genomischen Datenmenge ist auf Vermittlungsverfahren angewiesen. Marker müssen definiert und Profile erstellt werden. Nur so kann ein Genom auf seine Eigenschaften hin qualifiziert werden. Diese Marker und Profile sind jedoch Auslegungssache und vor keinerlei Irrtum geschützt. Testart betont, dass einzelne Faktoren keine wirklichen Aussagen erlauben. Das Vorhandensein einer Gensequenz, der pathogene Eigenschaften zugeschrieben werden, kann niemals die „Expression“ einer solchen voraussagen. Möglich ist sogar im Gegenteil, dass ein solcher Abschnitt zwar mit einer Erkrankung in Verbindung zu bringen ist, aber ebenso mit einer Resistenz gegen andere Erkrankungen.
Diese Zweifel an der Leistungsfähigkeit der gentechnologischen Hypothese werden durch einen rhetorischen „zentralen Schalter“ umgedeutet: durch das „Noch-nicht“. „Noch“ sind die Funktionsweisen der Gene nicht analysiert etc. Theoretischer ausgedrückt: Es ist die herrschende Heuristik, die der Forschung und ihrer gesellschaftlichen Vermittlung die Plausibilität auch bei ausbleibenden Erfolgen sichert. Dieser „Schalter“ ist die politische Stelle, die von den BefürworterInnen, die den Erfolg für gesichert halten, ebenso umgangen wird wie von den ethischen BedenkenträgerInnen, die ein Gelingen zwar vielleicht nicht für wünschenswert halten – und oftmals auch die Langzeitwirkungen problematisieren –, damit aber dieMachbarkeit gleichermaßen voraussetzen.
Nur ökonomisch sind die Verfahren interessant
Das Problematische ist jedoch keineswegs, dass hier vielleicht Geld und Energie in die falsche Hypothese gesteckt werden, sondern dass diese Hypothese in der klinischen Praxis zur Maßgabe zu werden droht. Damit ermöglicht sie Eingriffe und Therapien, die nicht nur individuell zu Katastrophen führen können, sondern die noch schwer zu erkennen sind. Die Unangemessenheit von Genanalysen lässt sich lange verdecken. Testart zieht es grundsätzlich in Zweifel, ob jemals ein individuelles Genom gezielt und zuverlässig verändert werden kann. Nur statistisch machen Voraussagen Sinn. Folgte man dieser Hypothese – oder nähme sie nur ernst –, dann veränderten sich damit die gesamten Perspektiven auf Lebensverlängerung und Krankheitslosigkeit. Aber auch die prädikative Medizin, deren Anspruch, die Risikowahrscheinlichkeit erblicher Krankheiten benennen zu können, vor diesem Hintergrund abstrus erscheint, ist in ihren Wirkungen geradezu gewalttätig. Eine angebliche 70-prozentige Gefahr der Krebserkrankung hat eine enorme Wirkung auf das Individuum, aber keine wirkliche empirische Qualität. Entsprechend ist sie auch durch „Überleben“ nicht zu widerlegen. Für die aktuell diskutierte PID, die Präimplantationsdiagnostik gilt: Die Mittel, ein Genom zuverlässig auf Krankheitsanfälligkeit zu diagnostizieren, sind nicht da. Dass der Eindruck des Gegenteils erweckt werden kann, liegt nur darin, dass beide Hypothesen nicht in „Lebenswelten“ außerhalb des Labors überprüft werden können. Bis heute gibt es nur eine Evidenz: Die Verfahren sind ökonomisch interessant – auch wenn sie nicht „funktionieren“.
Die FAZ demonstriert als Reaktion auf die Entschlüsselung, was sie unter naturwissenschaftlichem Feuilleton versteht: Zentral platziert das Feuilleton ein Gespräch mit der Legende James Watson, 72 Jahre alt, lange Zeit Chef des Human Genome Projects und vor 50 Jahren der „Erfinder“ der DNA. Watson preist vor allem den Unternehmergeist im Allgemeinen und den der Bioforschung im Speziellen, um dann zu enden: Glücklich sei nicht nur die Menschheit, sondern auch der Unternehmer, Craig Venter, der Chef von Celera Genomics, ein „glücklicher Mensch“. Die FAZ kennt zwar an dieser Stelle eine Antwort auf solcherart Gründerzeiteuphorie, nämlich den klassischen Kommentar, widerspricht darin jedoch „radikal“ jeder Erwartung auf kulturwissenschaftliche Einordnung des zu Lesenden. Stattdessen wiederholt sie lediglich: Watson, ein selbstbestimmter Mensch. Bis in alle Sparten hinein ist die Ausgabe durchdrungen von der epochalen Erneuerung. Aber erst unter Finanzen findet man die erste Nachdenklichkeit: Vielleicht sei ja das entschlüsselte ABC wie der wenig Sinn machende Text eines Gedichtes, und die Arbeit fange erst an. Doch Gedichte lassen immer noch die Möglichkeit zu, der Sinn sei delirant.
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