: Gemüse unter Freunden
Die Zeugen Jehovas planen auf ihrem Glaubenskongress in Berlin Revolutionäres
BERLIN taz ■ Mehr als 10.000 „Zeugen Jehovas“ sind heute zu einem Kongress im Berliner Jahn-Stadion eingetroffen. Thema der dreitägigen Veranstaltung ist die im Vorfeld leidenschaftlich diskutierte Reform der Lehr-Inhalte der christlichen Glaubensgemeinschaft.
Der Deutschlandsprecher und „Chef-Älteste“ der auch als „Wachturmgesellschaft“ bekannten Bekenntnisgemeinde, Wilhelm Strässer, erklärte während einer Pressekonferenz: „Uns ist bewusst, dass das etwas verstaubte Image unserer Gesellschaft zu unserem akuten Nachwuchsproblem entschieden beiträgt. Viele unserer bisherigen Dogmen sind heute – vor allem für die Jugendlichen – nicht mehr interessant. Der Zeitgeist hat sich geändert, die jungen Leute wollen heutzutage Sex, Spaß und Action. In intensiven Gesprächen zwischen den obersten Gemeindevorstehern und Vertretern unserer Jugendorganisation ‚Jehova-Hipsters‘ (JH) ist es gelungen, einen Konsens zwischen den Verfechtern der alten Grundsätze und den ‚Jungen Wilden‘ zu erzielen.“
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: So soll den jungen Leuten neuerdings nicht nur der voreheliche Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern gestattet sein, auch Diskothekenbesuche und ausschweifende Trinkgelage sowie hemmungsloser Drogenkonsum und das Tragen „flippiger Klamotten“ sollen nicht mehr auf der Liste verpönter Tätigkeiten stehen.
Sogar das prominenteste Mitglied der „Zeugen Jehovas“, Michael Jackson, ist als „zu bieder“ bei den JH nicht mehr gefragt. Stattdessen gründeten sie eine Heavy-Metal-Band mit dem Namen Black Witnesses. Dazu Lars Schimpf, 44, Vorsitzender der JH, der entschieden dafür kämpft, diese neuen Freiheiten durchzusetzen: „Unsere Forderungen liegen ganz auf der Linie biblischer Botschaften. Direkt auf der ersten Seite steht ja geschrieben ‚Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seine Art‘.“ Er lacht spitzbübisch: „ Ein bisschen Gras muss sein, dann kommt der Spaß von ganz allein, ha, ha, ha. Nein, im Ernst: Christus ist für unsere Sünden gestorben, und es wäre nicht Gottes Wille, wenn sein Sohn für nichts gekreuzigt worden wäre. Er war einer von uns, und wir dürfen ihn jetzt nicht hängen lassen, yeah!“
Zum Abschluss des Kongresses am kommenden Sonntag planen die Jehova-Hipsters – in Anlehnung an die Love Parade – unter dem Motto „Das-coole-Zeugen-für-Jehova“ einen großen Umzug vom Brandenburger Tor aus, einmal um die Siegessäule und zurück. Schimpf bedauert: „Unsere Pray Parade ist vom Stadtvater bisher allerdings noch nicht genehmigt worden. Wir würden aber garantiert keinen Dreck und auch keinen Lärm machen. Es müsste auch nichts gesperrt werden, wir könnten auf dem Bürgersteig gehen.“ Dazu Deutschlandsprecher Strässer: „Was die Parade angeht, bin ich ein bisschen zwiespältig. Natürlich sollen sich die jungen Leute die Hörner abstoßen dürfen. Aber wenn man ihm den kleinen Finger reicht, greift der Teufel gern gleich die ganze Hand.“ Eine besondere Gefahr sieht Strässer in der Möglichkeit, die jungen Leute könnten im Paraderausch zu Transfusionen von noch immer illegalen Blutkonserven verführt werden. Stadtvater Eberhard Diepgen sieht eine ganz andere Gefahr: „Für den Fall, dass wir die JH-Parade genehmigen, haben Extremisten der Neu-Apostolen einen ‚Karneval der Märtyrer‘ in Berlin angedroht. Ärger können wir in dieser Stadt im Moment aber leider nicht gebrauchen.“ Doch Schimpf gibt die Hoffnung nicht auf: „Eine Schüssel Gemüse bei guten Freunden ist besser als der schönste Braten bei gehässigen Leuten.“ CORINNA STEGEMANN
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