Zum Wachstum verdammt

Neue Hightech-Unternehmen müssen nicht nur immer wieder um neues Geld kämpfen. Auch die betriebsinternen Anforderungen an die Organisation nehmen mit zunehmender Größe zu. Viele werden davon überrascht

von BEATE WILLMS

Es muss nicht immer die Garage sein. Bei Jens Bormann und Karsten Wulf war es eine 12-Quadratmeter-Küche: 1993 kauften die beiden zwei Telefone und begannen zu wählen. Sechs Jahre später wurde ihre b u. w Telefonmarketing GmbH mit einem Umsatzwachstum von 23.650 Prozent seit der Gründung als das am zweitschnellsten wachsende Unternehmen Europas ausgezeichnet. Heute sind in den fünf Call-Centern in Deutschland und Österreich rund 1.350 Leute beschäftigt. Ein Ende der Dynamik ist nicht abzusehen. b u. w will „den gesamten deutschsprachigen Raum erobern“.

Mit diesen Expansionsgelüsten liegt b u. w im Trend. Noch Anfang der 90er-Jahre wollten 28 Prozent der Gründer von Hightech-Unternehmen in Deutschland eine „kleine, überschaubare Wirtschaftseinheit“ aufbauen, 32 Prozent verfolgten eine „Strategie des risikomindernden Wachstums“ und nur 24 Prozent eine schnelle Expansion. In den USA strebten dagegen 86 Prozent ein „schnelles Unternehmenswachstum“ an. Heute gibt es auch in Deutschland kaum mehr ein Start-up, das ohne „ausgeprägte Wachstumsorientierung“ antritt. „Unternehmertum kommt in diesen Bereichen selten als gesellschaftliche Aufgabe daher“, erklärt Marianne Kulicke vom Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Es gelte als völlig legitim, „einfach nur reich werden zu wollen“.

So passt alles zusammen: Die Gründer wollen Wachstum. Die Teilhaber oder Aktionäre wollen Wachstum. Die Branche will Wachstum. Und das erreicht man am schnellsten, indem man das Geld für das ausgibt, was wiederum Einnahmen produziert: neue Produkte, neue Fabriken, neue Märkte. „Das kann ein Fluch werden“, sagt Marion Schink, Sprecherin des Bundesverbandes junger Unternehmer. „Man ist zum Wachstum verdammt.“

Das bedeutet nicht nur, dass die Unternehmer immer wieder neues Risikokapital finden müssen. Sie dürfen auch die interne Entwicklung nicht vernachlässigen. Wachstumsunternehmen unterliegen einem ständigen Wandel. „Wir kriegen gar nicht genug Leute, um alle Aufträge zu übernehmen“, so b u. w-Sprecherin Karina Runde, „abgesehen davon, dass die auch noch eingearbeitet werden wollen.“ Die letzten Male behalf man sich damit, neue Standorte – und damit auch personelle Kapazitäten – zu erschließen.

„Die Wachstumsschwelle liegt bei 25 bis 30 Mitarbeitern“, erklärt Kulicke. Ab da brauche man Hierarchiestufen. Ein Start-up kann arbeiten, ohne Berufsvoraussetzungen zu definieren und Leistungsbewertungssysteme aufzustellen. Auch wer welchen Teil der Arbeit übernimmt – und wie die überhaupt aussieht –, entwickelt sich erst im Laufe der Zeit. „Genau das schätzen die Leute ja daran“, so Kulicke. Hinzu komme ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der gemeinsamen Unternehmerschaft, das die Chefs mit für alle Mitarbeiter offenen Türen unterstreichen und als „Firmenphilosophie, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht“, auch zur Außendarstellung nutzen. BOV, ein Oberhausener IT-Dienstleistungs-Anbieter, bietet seinen Angestellten nicht nur Bügel- und Einkaufsdienste, sondern auch die Möglichkeit, sich zeitweise an Computerprojekten in Brasilien zu beteiligen. Und die Firmenpartys sind angeblich so legendär, dass immer wieder Fremde versuchen, sich mit gefälschten Karten einzuschleichen.

Der Bruch kommt, wenn die Hierarchie steiler wird. Wenn der Betrieb wächst und sich die Anforderungen verändern. Plötzlich werden Führungskräfte gebraucht. Jemand, der in der Anfangsphase die Ideen mitentwickelt hat und entsprechend viel mitzureden hatte, ist dazu vielleicht nicht qualifiziert. Er muss sich arrangieren, verliert den Status und schlimmstenfalls den Job. „Das sorgt für böses Blut“, so Kulicke. „Aber wer keine neue Strukturen aufbaut, mit denen sich die wachsende Organisation kontrollieren lässt, verliert den Überblick.“

Die Reaktionen der Beschäftigten sind unterschiedlich. Die einen können die Entscheidung nachvollziehen, weil sie von Anfang an die Unternehmerseite mitgedacht haben – schließlich ging es um die Existenz der Firma. Andere pochen jedoch auf ihre Arbeitsrechte. Und spätestens dann macht sich bemerkbar, dass die allermeisten Start-ups ohne Mitbestimmungsstrukturen auskommen. Klar, sagt Detlef Winterstein, Gesamtbetriebsrat bei der Software AG Darmstadt, die die heutige Enwicklung auf den IT-Märkten schon Mitte der 80er-Jahre vorweggenommen hat: „Wer eine Firma gründet und mit seinen Mitarbeitern zusammen hocharbeitet, für den bricht eine Welt zusammen, wenn die auf einmal einen Betriebsrat wollen.“ Trotzdem dürfe man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Bedingungen ändern können. „Solange die Firma prosperiert, jedes Jahr wächst und immer mehr Geld verteilen kann, braucht man keine Interessenvertretung“, so Winterstein. Anders als Leute, die vorher bei einem großen Konzern gearbeitet haben, kann so mancher, der frisch von der Uni eingekauft wird, mit dem Gremium überhaupt nichts anfangen. So verweist BOV-Sprecher Dirk Korowski bei der Frage nach einem Betriebsrat auf das „Team Unternehmenskultur“, das „Coach für beide Seiten“ sei und sich um die sozialen Belange kümmere. Das Betriebsverfassungsgesetz sagt ihm gar nichts.

Erst wenn die Wachstumsphase vorbei ist oder eine Krise ansteht, wird dann deutlich, was es heißt, wenn jemand wie Brokat-Chef Stefan Roever nach dem Motto vorgeht: „Wenn Mitarbeiter fristlos und ohne Angaben von Gründen kündigen können, müssen Unternehmen das auch dürfen. Die entlassenen IT-Profis finden sowieso gleich wieder einen Job.“ Spontan aus dem Boden stampfen lässt sich ein Betriebsrat dann nicht. Und selbst wenn dann einer – womöglich gegen viel Widerstand – gewählt worden ist, braucht er meist Jahre für den Kompetenzaufbau. Winterstein: „Einen Ehevertrag sollte man machen, solange die Ehe funktioniert.“