Für ein paar Blue Notes mehr

Lass den Santana oder den Duke doch einfach raus, Mann: Dr. Johns Auftritt in Berlin war dermaßen entspannt, dass selbst Feinde des Kunsthandwerks minutenlange Gitarrensoli mühelos wegsteckten

von HARALD FRICKE

Der Mann auf der Bühne trägt Weste und Hut. Aber Dr. John ist es nicht, sondern „irgendein Gitarrenlehrer aus Schöneberg“. Sagt der Kollege, der die Fotos macht. Er ist leicht in Panik, weil sich schon reichlich Leute im ColumbiaFritz vor der Bühne drängeln und er womöglich nicht mehr ganz nach vorne kommt. Auch deswegen, meint er zum Abschied, und zeigt auf seinen Bauch.

Dr. John hat dann wenig später selbst einen gut gepflegten Bauch, den er gemütlich vor sich herschiebt. Gleich zu Beginn des Sets dürfen seine drei Begleitmusiker allerlei Trommeln wirbeln und Gitarren fiepen lassen, bevor der Herr im weißen Jackett mit Handstock die Bühne betritt. Das hat sogar etwas von Elvis, nur eben in der Variante eines älteren Herrn, der im November 60 Jahre alt wird. Denn Dr. John, der im wirklichen Leben Mac Rebennack heißt, gilt seit dem Tod von Elvis als einer der letzten weißen Vertreter schwarzer Roots-Musik. New Orleans, Mardi Gras, R ’n’ B, Blues, Funk und Jazz – alles fügt sich bei ihm zu einer Pastiche aus dem Süden der USA zusammen, wo man auch Schrimps, Hühnerbeine und Krebse mit Okraschoten kocht und den Eintopf „Gumbo“ nennt.

Dabei geht Dr. Johns Karriere bis in die Fünfzigerjahre zurück, als er in Big Bands Gitarre spielte. Zum Klavier wechselte er, nachdem ihm bei einer Eifersüchtelei unter Freunden beinahe ein Finger abgeschossen worden war. In Zeiten von Woodstock war er eine Hippie-Ikone: Dr. John, der Nighttripper, schmückte sich mit mächtigen Federbüschen, sang über Voodoo und mixte das Ganze mit Psychedelic. Auch die Texte waren seltsam: Wo hörte man sonst schon minutenlang einen Drogen-Haiku-Satz wie „Danse Kalinda Ba Boom“?

Einige Fans von früher sind auch beim Konzert in Berlin noch dabei. Wenn der Schlagzeuger für „I Walk On Guilded Splinters“ Papageien imitiert, dann machen die Profis im Publikum auch komische Kreischgeräusche, weil sie das schon seit 30 Jahren bei Dr. John machen. Das ist Tempodrom-Boheme. Andere trippeln auf perlmuttfarbenen Slippers im Takt oder wackeln in selbst genähten Kleidern unstet umher. Für sie ist Dr. John der Mann, der ein bisschen Exzentrik in den sonst sehr trüben Alltag als Verwaltungsangestellte oder Grünen-PolitikerIn bringt.

Dr. John scheint sich heute allerdings mehr für Klassiker als für alt gewordene Alternative zu interessieren. Seine Liebe zu Duke Ellington, dem er in diesem Jahr ein ganzes Album gewidmet hat, passt da ganz ins Bild: Unglaublich lässig werden Songs wie „Perdido“ auf der Orgel durchgewinkt, und bei den Gesangsparts schlufft Dr. John mit seiner quengeligen Stimme angenehm über die Strophen hinweg. Der Auftritt ist überhaupt dermaßen entspannt, dass man selbst als Feind des Kunsthandwerks minutenlange Gitarrensoli mühelos wegsteckt. Lass den Santana einfach raus, Mann, und dann noch ein paar Blue Notes hinterher. Dabei sieht der Gitarrist mit Afro und Rollkragenpulli wie ein Model aus dem Cultural-Studies-Reader aus.

Tatsächlich ist die Musik von Dr. John ein Porträt kultureller Formationen, wie sie die US-amerikanische Kultur im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat. Große Komponisten treffen auf Popmelodien, Ellington klingt funky, kubanischer Bop wird in Rare Groove verarbeitet. Was im HipHop an Samplern und Turntables gecuttet wird, läuft hier noch von Hand. Weil der Mensch aber nicht nur arbeitet, sondern auch tanzen will, steht Dr. John irgendwann vom Klavier auf und zieht mit Merengue-Schritten ein paar Kreise. Schon deshalb mochte man ihn nach zwei Zugaben immer noch nicht von der Bühne lassen.