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Von Steuern und Offizierspastete

Das Leben im Wirtschaftswunder-Gouvernement: Tagsüber arbeiten wie im Westen. Nach Feierabend hat einen die russische Wirklichkeit wieder

aus Nowgorod BARBARA KERNECK

Wladimir Nekrassow hält triumphierend eine Wurst hoch. Sie trägt die Aufschrift: 2 Rubel 20. „Die Altkommunisten schwärmen doch immer davon, dass früher das Kilo Wurst bloß 2 Rubel 20 kostetete“, sagt er, „nun habe ich ihnen wiedergegeben, wonach sie verlangen!“ Nekrassow (48) schwindelt ein bisschen, das Würstchen wiegt höchstens ein Viertelkilo. Dennoch: Mit Würsten kennt er sich aus, er ist Generaldirektor des „Nowgoroder Fleischhofes“, dessen Produkte auf Lebensmittelausstellungen in aller Welt Preise einheimsen.

Entstanden ist das Unternehmen 1993 durch die Umwandlung eines staatlichen Fleischkombinats in eine AG. Bald darauf wurde das heutige Werk gebaut, das modernste in Nordrussland. „Damals“, sagt Nekrassow, „stand eine Tür für uns offen.“ Geöffnet hat sie für ihn und viele andere Nowgoroder Manager der Gouverneur Michail Prussak (40) mit seiner Investitionspolitik.

Politik: banal, aber bahnbrechend

Die Stadt, in der sich ein russisches Wirtschaftswunder abspielt, ist nicht das berühmte Nischni Nowgorod an der Wolga, sondern die Namensvetterin in Nordwestrussland, eine saubere Kleinstadt mit 320.000 Einwohnern. Im Mittelalter nannte man sie Nowgorod Weliki Gossudar, „der große Herr Nowgorod“. Sie lag am Handelsweg, der Skandinavien mit Griechenland verband, und war eng mit der Hanse verbunden. Wie die Hansestädte war sie eine Republik. Auf der Bürgerversammlung, dem Wetsche, wählte sie sich ihren Fürsten. Doch 1570 machte der Moskauer Großfürst Iwan der Schreckliche in einem grausamen Feldzug Schluss mit dieser herausfordernden Freiheit. Fünf Wochen lang schwammen Hunderte zerstückelter Leichname im Wolchow.

Erst 1994 wagte ein Nowgoroder „Fürst“ wieder einen Alleingang. Gouverneur Michail Prussak, damals Mitte dreißig, überlegte, wie man für die Wirtschaft der Region Kapital anziehen könnte. Seine Maßnahmen klingen für westliche Ohren banal, doch für Russland waren sie bahnbrechend. Prussak beschloss, jedes einzelne Unternehmen, das in seinem Gouvernement investierte, gleich ob russisch oder ausländisch, so lange von den Steuern für Umsatz und Gewinn zu befreien, bis die Investitionen amortisiert wären. Die nötige Frist sollte jeweils von einer unabhängigen internationalen Consulting-Gesellschaft eingeschätzt werden.

739.000 Einwohner zählt das Gouvernement. Sie bilden nur ein halbes Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation, aber heute kommen auf jeden Einzelnen mehr ausländische Investitionen als irgendwo sonst im Lande. Angelockt wurden sie durch Prussaks Versprechen: „Wir haben kein Erdöl und keine Diamanten. Aber wir geben euch dafür die Möglichkeit, hier unter den gleichen Bedingungen zu produzieren wie bei euch zu Hause.“

Allein 1998 betrug die Summe ausländischer Investitionen im Gouvernement 553 Millionen Dollar. 170 Unternehmen mit ausländischem Kapital beschäftigen hier heute 18.600 Mitarbeiter. Ihr Anteil an der Industrieproduktion des Gebiets beträgt fast zwei Drittel. Noch ist Nowgorod Empfängerregion im innerrussischen Finanzausgleich. Aber nächstes Jahr soll sich das ändern, dann haben sich alle großen ausländischen Investitionen hier amortisiert. Gouverneur Prussak meint: „Praktisch können wir schon heute allein laufen.“

Dasselbe sagt von sich und seinem Team Sergej Saidow (39). Als Unternehmer in Nowgorod schon bekannt, beschloss er Mitte der 90er-Jahre, Farmer zu werden, und bekam vom Gouvernement 700 Hektar Land zur unentgeltlichen und zeitlich unbegrenzten Pacht. Hektar für Hektar des Sumpfbodens machte er mit Mist und Sägespänen fruchtbar. Heute ist er einer der größten Farmer Russlands und erzielt Rekordernten: 300 Zentner Kartoffeln und 1.500 Zentner Kohl pro Hektar. Saidows Ein und Alles sind aber die fünf- bis zehntausend Enten, die er jedes Jahr großzieht. Für sie hat er einen Park mit einem großen Fischteich angelegt.

Eigentlich sei er reif für den Ruhestand, sinniert Saidow. „Während ich all dies auf die Beine gestellt habe, hat meine Seele laut geschrien.“ Mehr, als er an Steuern spart, zahlt Saidow nämlich an alle Arten von Inspektoren – unter der Hand: „Jeden Monat fahre ich einen anderen Kontrolleur auf einem meiner Wagen hierher – von der staatlichen Sanitätsinspektion über die Inspektion für technische Geräte und so weiter!“

Besonders gekränkt hat es Saidow, dass er 3 Millionen Rubel Strafe für seinen Ententeich bezahlen musste, weil er an der Quelle keine Wasseruhr eingebaut hatte. „Nun bin ich schuld daran, dass der Staat nicht weiß, wie viel Kubikmeter Wasser sich vor zwei Jahren hier unter der Erde befanden“, sagt er.

Auch Carsten Bennike (35), dem Generaldirektor der Nowgoroder Dirol-Werke (DK), haben die beamteten Blutsauger schon zugesetzt. Mit Schaudern erinnert er sich daran, wie Abgesandte der Steuerbehörde in seinem Büro wüteten und ihm auf „unschöne Weise“ Steuerhinterziehung vorwarfen. Bennike klagte vor einem Nowgoroder Gericht – und gewann. Den Kampf mit den örtlichen Feuerwehrleuten und technischen Inspektoren beim Bau des Werkes führte die Firma anders: „Wir haben die Leute kurzerhand nach Dänemark gefahren, damit sie mit eigenen Augen sahen, dass die geplanten Anlagen funktionieren.“

Fitness im werkseigenen Studio

Die Nowgoroder Dirol-Werke stehen seit Sommer 1999. Sie haben eine Produktionskapazität von jährlich 700.000 Tonnen Kaugummi. Die bunten Päckchen in 14 Geschmacksrichtungen werden von hier aus in die gesamte GUS geliefert. Dreihundert Menschen zwingen die klebrige Masse durch Röhren und lassen sie zum Schluss mit bis zu vierzig feinen Schichten besprühen, damit die Stückchen hübsch „crunchy“ werden. Die Arbeiterinnen erhalten kostenlos Mittagessen in der werkseigenen Kantine, sie können sich in einem werkseigenen Swimmingpool und einem Fitnesscenter trimmen. Es gibt sogar eine eigene Klinik auf dem Fabrikgelände.

Und warum produziert Dirol ausgerechnet in Nowgorod? Bei dieser Entscheidung, eröffnet Bennike überraschenderweise, hätten die Steuererleichterungen die geringste Rolle gespielt. Gezählt habe „eine gewisse Stabilität“ in der örtlichen Politik: „Unsere hilfsbereiten Ansprechpartner in der Administration sind über all die Jahre dieselben geblieben.“ Fürs gute Investitionsklima hat die Nowgoroder Regierung einen Investitionsfonds geschaffen. Sie ist kulant beim Grundstückserwerb, ihre Entscheidungsstrukturen sind einfacher als anderswo, die Registrierungsverfahren für Firmen kürzer.

In Russland raunt man, in Nowgorod gäbe es einen geheimnisvollen Konsens, den niemand gefährden wolle. Lieber zahle ein Unternehmer dort mehr Steuern, als sich mit dem Gouverneur anzulegen. Wie er das geschafft hat? „Indem ich gegen niemanden kämpfe. Bei uns im Lande haben immer alle gekämpft: gegen den Kapitalismus, für die Baikal-Amour-Eisenbahn. Ich schreibe lieber vernünftige Gesetze und schließe Kompromisse“, sagt Michail Prussak.

„Tschudowo“ heißt „Wunderdorf“. Tatsächlich ein Wunder, dass sich in diesem an Müllhalden und unasphaltierten Straßen reichen Ort, 40 Kilometer vor Nowgorod, gleich mehrere Firmen von internationalem Rang niedergelassen haben. Unter anderem baute Cadbury (GB) hier eine Schokoladenfabrik, die Firma Raute (FI) einen Holz verarbeitenden Betrieb, und Helmut Viehweg (62) nahm als Generaldirektor für die deutsche Firma Pfleiderer die Glaswolleproduktion in Angriff.

Die Pfleiderer-Niederlassung scheint über das Erfolgsrezept für ausländische Investoren in Russland zu verfügen. Erstens kennt Viehweg Land und Leute aus dem Effeff: Als ehemaliger DDR-Bürger hatte er in Moskau Technologie der Baumaterialien studiert. Zweitens hat man sich unabhängig von den Kapriolen des Rubelkurses gemacht, indem man alle wichtigen Rohmaterialien – Sand, Soda und Tonerden – im Land selbst einkauft. Drittens wird die Ware ausschließlich an Privatkunden verkauft. Über ein Netz von 180 Händlern versorgt die Pfleiderer-Niederlassung russische Bürger mit Glaswollematten, mit denen sie ihre Datschen winterfest machen.

Heute ist das Werk in seinem Bereich die Nummer eins in Russland. Nach gewissen Anfangsschwierigkeiten – 40 Mitarbeiter flogen, weil sie besoffen zur Arbeit erschienen – ist Viehweg mit seiner 300 Mann starken Mannschaft zufrieden. Ein Glaskocher verdient 300 Mark im Monat – guter russischer Durchschnitt.

Die Wallanlagen am Nowgoroder Kreml. „Die ausländischen Unternehmen sind für uns ein Segen“, sagt Galina Nikolajewna (48); „es gibt keine Arbeitslosigkeit.“ Als Angestellte der Stadtverwaltung hat sie den Überblick. Trotzdem ist sie hergekommen, um im Schatten der prächtigen Kathedralen schwere Sorgen zu vergessen: „Mein Sohn muss im Herbst zur Armee. Ich weiß nicht, wie ich verhindern kann, dass er nach Tschetschenien geschickt wird. Seit Herbst 1999 sind dort schon 24 junge Männer aus unserer Stadt gefallen.“

Sorgen macht nur die Politik

Auch Fleischhofchef Nekrassow kann die Wirtschaft nicht von Fragen der Politik trennen. „Der Lebensmittelmarkt ist bei uns auf katastrophale Weise kriminalisiert“, sagt er. „Man versucht uns mit allen Mitteln hinauszuekeln.“ Seine Fleischkonserven muss Nekrassow zum großen Teil der Armee und den staatlichen Hilfsorganisationen für die Permafrostgebiete verkaufen, die schlecht und säumig zahlen.

Kürzlich hat die Duma in Moskau ein neues Steuergesetz verabschiedet, das lokale gesetzgeberische Initiativen ausschließt. Gouverneur Prussak ist dennoch optimistisch. Präsident Putin werde das Nowgoroder Modell weiterhin unterstützen, versichert er: „Ansonsten ist mir Russland egal!“ Wurstspezialist Nekrassow dagegen meint, dass damit die Tür wieder zugefallen sei, die sich ihm seinerzeit öffnete. „Es ist ja bezeichnend, dass man Prussak nicht in die Regierung holt. Da sieht man jetzt lieber Militärs und KGBler.“

Obwohl Nekrassow den militaristischen Trend verachtet, trägt er ihm Rechnung. Außer der Wurst für 2,20 Rubel kreierte er auch eine „Offizierspastete“ und eine „Unterleutnantspastete“. „Jetzt warte ich darauf, dass unsere Militärs genug ausgezahlt bekommen, um sich die leisten zu können“, sagt er. Vermutlich vergeblich. „Unser Land geht schwanger mit Unheil, und wie jede Schwangerschaft wird diese nicht einfach von selbst wieder vorbeigehen.“

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