: Das Leben als Verlust
Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer
Draußen dämmert es. Die meisten Bewohner des Hauses wissen jedoch, dass sie heute kaum schlafen werden, und mit Fernsehenkucken wird es auch nichts. Unten in der Galerie ist heute eine große Party angesagt, die Ausstellungseröffnung der Künstlergruppe „Renata“ aus Italien. „Das Leben als Verlust“ heißt die Ausstellung.
Meine Frau und ich sind zur Vernissage eingeladen und ziehen uns schick an: Das Programm verspricht eine Symbiose aller Künste. Junge Literaten werden ihre Werke vortragen, ein Theater-Perfomance, ein Film und eine Musikgruppe sind angekündigt. „Ich mag die Symbiose nicht“, fängt meine Frau schon im Vorfeld an zu meckern. Sie mag die Symbiose nicht! Wer mag so etwas schon!
Wir gehen trotzdem hin. Der Weg ist nicht weit, die Galerie befindet sich in der Nähe der Schönhauser Allee. Als das Haus vor zwei Jahren renoviert wurde, zog im Erdgeschoss zuerst eine Bäckerei ein, später eine kleine Pizzeria, danach ein Schuhgeschäft mit tollen Angeboten. Danach stand der Laden eine Weile leer – bis die schicke Galerie (samt ihren internationalen Beziehungen) sich dort breit machte. Ganz im Sinne der modernen Zeit. Wir sind zu früh. Das Geschäft ist noch leer, nur die Künstlergruppe „Renata“ und ein paar ältere Herren sind schon da. Auch die Bilder hängen schon – große Bilder mit grünen Männern, die Hühnerbeine haben, und Frauen, die auf der Flucht sind. Ferner sieht man umgekippte Möbel und tote Vögel. Das Leben als Verlust eben.
Ein alter Herr benutzt seine leere Bierflasche als Monokel: Er hält sie vors Auge und kuckt sich damit die Bilder an. Man erkennt sofort den Profi. Ich nehme mir auch eine leere Bierflasche, stelle mich neben ihn und versuche, die Bilder aus seinem Blickwinkel zu betrachten, merke aber keine Veränderung: Nur die Männer auf dem einen Bild sind noch grüner geworden. Um 11 Uhr nachts kommen plötzlich alle: die Künstler, die Autoren, die Filmemacher, die Bildhauer, die Schauspieler – viele mit ihren Kindern, Frauen, Eltern und Hunden. Hände schütteln, Beziehungen knüpfen, tanzen und trinken, das künstlerische Dasein genießen.
Die Künstlergruppe Renata als Gastgeberin freut sich über jeden Gast und schüttelt alle Hände. In einer Ecke findet eine Lesung mit anschließender Performance statt. „Jung ist die deutsche Literatur geworden“, sagt ein alter Künstler mit Trinkernase. „Jünger als je. Und der Knirps mit den Hosenträgern? Wessen Sohn ist er? Ach, auch ein Schriftsteller? Er sieht aber sehr jung aus. Erst 12? Und schon zwei Romane geschrieben?“
„Ich war so dumm!“, sagt eine schöne Dame in schwarzem Kleid mit einem Rotweinglas in der Hand und einer Rose im Haar, sie lehnt an einem Schreibtisch und regt sich auf. „Warum nur habe ich mich jahrelang mit diesem langweiligem Schinken befasst? Das Selbstbewusstsein der Frau! Ohne jeden Sinn für Humor! Wissen Sie, worüber ich meinen letzten Roman geschrieben habe?“, fragt sie eine glatzköpfige Filmemacherin im Männeranzug. „Über Schmerz. O Gott, ein Roman über den Schmerz! Ist es zu fassen?“
„Dafür haben Sie aber eine sehr schöne Frisur. Wo haben Sie die her?“ Die Stimme der Kahlen klingt neidisch. „Ach lassen Sie das, ich weiß nun, wie man schreiben muss: leicht, schnell, flüssig, die Wörter müssen nur so rollen. Als Nächstes schreibe ich einen Roman über Skater.“ „Den gibt es schon“, erwidert die Kahle, „ich habe gerade ein Skript über Skateboarder verfilmt, aber sagen Sie doch mal, wo haben Sie die Frisur her, ist das alles echt?“ Plötzlich fährt sie der Schmerzensfrau mit beiden Händen ins Haar. Die Autorin mit Rose springt zur Seite „Lassen Sie meine Haare in Ruhe! Sind hier denn alle verrückt?“, fragt sie und geht zur Toilette. Sechs Künstler aus Amerika, alle große Freunde von „Renata“, stehen vor der Tür Schlange. „Wer ist da eigentlich drin?“, fragt eine alte Bildhauerin einen Musiker, der gerade mit seiner Gitarre unterm Arm vorbeikommt. „Da drin?“ Der Musiker presst sein Ohr an die Tür, hört ein undeutliches Gemurmel und grinst. „Das klingt ganz nach unserem Otto“, sagt er zu der Frau. „Wer ist euer Otto?“, fragt einer der Amerikaner. „Was hat dieser Otto denn so Tolles gemacht, dass er es sich erlauben kann, gleich für mehrere Stunden das Klo zu besetzen?“ „Otto ist kein Künstler, das ist der Pitbull von Herrn Krüger“, erklärt der Musiker freundlich.
„Ich dachte immer, der Hund von Herrn Krüger heißt Uschi“, wundert sich die Bildhauerin. „Ganz richtig, er hat ihn aber vor einer Woche umbenannt. Aber wie hat der Hund nur die Tür von innen verriegeln können? Vielleicht ist Otto mit jemand anderem da drin.“
„Herr Krüger, sind Sie da?“ Der Musiker klopft mehrmals an die Tür. Ein lautes Bellen ist die Antwort. „Wer zum Teufel ist dieser Krüger?“, regt sich einer der Amerikaner auf. „Er ist schon längst nach Hause gefahren“, bemerkt ein anderer Musiker, anscheinend ein Freund von Herrn Krüger, der gerade mit einem großen Keyboard unterm Arm vorbeikommt.
„Ich habe ihn auf der Treppe kotzen sehen. Wir wollen gleich mit dem Tanzen anfangen. Kommen Sie mit?“ Die Scherben der runtergefallenen Gläser werden von den Tanzenden schnell zu Glaspulver zermahlen und in das Parkett getrampelt. „Hauptsache, keiner fällt hin“, meint die Künstlergruppe „Renata“. Doch sofort rutscht ein junger Autor aus – sein weißes Hemd färbt sich mit Blut. „Tut es weh?“, fragt ihn die Dame, die einen Roman über den Schmerz geschrieben hat. „Es ist gleich vorbei, beruhigt ihn die kahle Filmerin. „Wo ist eigentlich die Symbiose, ich habe sie noch gar nicht so richtig bemerkt?“, fragt mich meine Frau.
Gegen 3 Uhr nachts kommt plötzlich Otto total frustriert aus der Toilette raus und beißt einen Jungliteraten in den Arsch. Im Nachhinein muss man aber sagen: Es war ein gelungener Abend.
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