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berliner szenenAm Wittenbergplatz

Im Stahl

Während sich am oberen Ende des Kurfürstendamms langsam Ödnis und bei den Geschäftsleuten Trostlosigkeit einstellen, herrscht am Wittenbergplatz immer noch heftiges Leben. Die rechte Seite des Platzes hat im Laufe nur eines Sommers gleich zwei neue Cafés hinzubekommen, und so steht nun Gartenstuhl an Gartenstuhl, Sonnenschirm an Sonnenschirm. Der Brunnen plätschert beruhigend, und auf den Speisekarten lockt italienische Küche. Stünden hier statt der üblichen Pappelbäume zwei, drei Palmen – man könnte sich am Wittenbergplatz wie an der Riviera fühlen.

Eine der Neueröffnungen liegt direkt am KaDeWe zur Ansbacher Straße hin und lockt mit Eis, Spaghetti und Pizza um Kundschaft. „Vivo“ strahlt die Leuchtreklame vom Dach des kleinen schiefergedeckten, mit ockerfarbenen Kacheln verkleideten Pavillons im Gründerzeitstil.

Vier dieser Häuschen gibt es bereits seit längerem auf dem Wittenbergplatz: Stehimbisse, die die Passanten mit Würstchen aus artgerechter Tierhaltung oder handgeschälten Pommes versorgen. Das „Vivo“ jedoch bietet neben seinen Speisen eine halbe Hundertschaft an Stühlen und Tischen im Freien. Das freut vor allem den Touristen. Eben noch durch sechs Etagen bis hinauf in die Feinschmeckerabteilung des Kaufhaus des Westens gewandert, kommt man hier zur ersehnten Ruhepause und gönnt sich eine Pizza Funghi oder einen gemischten Eisbecher. Den Rundblick über den Wittenbergplatz mit seiner fast metropolitanen Geschäftigkeit gibt’s gratis dazu.

Der Schöneberger staunt über die neue Lebendigkeit dieser sonst eher trostlosen, weil eigentlich doch langweiligen Ecke. Die Tische sind – sobald die Sonne für einigermaßen erträgliche Temperaturen sorgt – schnell besetzt. Vornehmlich mit Menschen, die mit Stadtplänen hantieren oder in ihren Einkaufstaschen nach den Neuerwerbungen wühlen.

Anwohner findet man kaum unter den Gästen. Zwar lag das neue Café lange Wochen und Monaten hinter einer Absperrung verborgen und nur der Baulärm und die Schuttberge zeugten von heftigen Umbaumaßnahmen. Allerdings nicht lange genug, um vergessen zu lassen, dass man bis vor kurzem das Gebäude nicht aufsuchte, um seinen Durst zu löschen. Im Gegenteil. Vor der „baulichen Umwidmung“, wie man das im Behördenjargon nennt, war die Eisdiele ein öffentliche Toilette, und wo einst eine Art Paravant den Eingang diskret verdeckte steht nun die Eistheke. Die ehemalige Tür zum Damenklo ist heute der Personaleingang, und der wird im Übrigen vornehmlich von Männern benutzt.

Staunend geht der Einheimische am gastronomischen Neuzugang vorbei. Schaut und bewundert das hochpoliert glänzende Chrom, die strahlend weißen Fliesen, das Lächeln des freundlichen Personals, die schönen Farben in den Eiskübeln. Und freut sich, dass es auch auf der anderen Seite des Tauentzien glänzt und funkelt. Gegenüber dem neuen Eiscafé steht schon seit einiger Zeit eine neue Wall-Toilette. Hochmodern und in zeitgemäßem Design, in blanken Stahl gefasst. AXEL SCHOCK

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