Seines Glückes Schmied

Mondo Culturale 4: Olaf Sanders' Studien zu einer Theorie der Selbstbildung in der Popkultur: „Romantik Zerstörung Pop“  ■ Von Roger Behrens

Ein viel beklagter Werteverlust, der sich den einen als Ethikkrise bemerkbar macht, den anderen als Kulturverfall: Der Jugend fehlten Leitbilder, traditionelle Normen verlören ihre Kraft. Gleichzeitig herrsche eine neue Ökonomie, die bisherige Wissensmodelle durcheinander bringe, kurzfristige Informationsverfügung statt langfristiger Erkenntnissicherheit erfordere – und damit von den Menschen eine höhere Mobilität verlange.

„Die moderne Dienstleistungs- und Mediengesellschaft konfrontiert uns – und die Jugendlichen natürlich in noch höherem Maße als die Erwachsenen – mit einem hochkomplexen und teils in sich widersprüchlichen Geflecht von Anforderungen, die der Einzelne für eine gelingende Biografie bestehen muss,“ will die 13. Shell Jugendstudie herausgefunden haben. Eine Chance für kreative Biografien, für einen Individualismus der „life politics“, wie Anthony Giddens seine sozialdemokratische Rechtfertigung der Verhältnisse nennt. Wer diese neue Konformität sozialer Mimikry nicht leistet, muss sich der wiederbelebten Disziplinargewalt unterziehen.

Das ist der Ausgangspunkt für Olaf Sanders' große bildungsphilosophische Studie, und: „Wie lässt sich Bildung ohne Rückgriff auf Universal-Moralen normativ gehaltvoll begründen?“ Der Titel Romantik, Zerstörung, Pop ist programmatisch: Sanders behauptet die Verwandtschaft zwischen den beiden ästhetischen Jugendbewegungen Romantik und Pop; eine Wahlverwandtschaft, denn immerhin hat die Romantik die bürgerliche Bildungsideologie maßgeblich geprägt, die in der Popkultur meist verworfen wird. Dazwischen steht historisch die Dialektik der Aufklärung: Bildung hat Auschwitz nicht verhindert, sondern legitimiert. Insofern erfährt Bildung durch die Popkultur eine zweite Negation – Sanders, der sich als Hegelianer gibt, interpretiert dies als dialektische Figur, als Negation der Negation: Gerade in der Kritik des traditionellen Bildungsideals stärke die Popkultur ein eigenes Bildungsverständnis.

Bereits die Cultural Studies wiesen darauf hin, dass Popkultur nicht ungebildet ist, sondern sehr wohl bildnerische Qualitäten habe. Das reicht bei Sanders bis zur Coolness eines LL Cool J; hier – im HipHop, bei Sonic Youth, ebenso in der Kunst Mike Kelleys oder Cindy Shermans – entdeckt Sanders eine ähnlich reflexive Problematisierung der Bildung als „individuellen Selbstge-staltungsprozess“ wie bereits in Philipp Otto Runges „Die Hülsenbeckschen Kinder“ von 1805.

Der an der Universität Hamburg lehrende Erziehungswissenschaftler möchte diese Brückenschläge auch methodisch in die Nähe der Popkultur bringen und „weicht vom üblichen Schema wissenschaftlicher Arbeiten ab“; sein Verfahren „ähnelt dem Sampling ... Das Gewebe des Textes entsteht ähnlich wie zum Beispiel bei den Stücken von Rockers Hi-Fi“.

Nun zeichnet sich gute DJ-Musik nicht dadurch aus, dass, sondern was und wie gesampelt wird. Eröffnet Sanders mit dem umfangreichen ersten Teil zur „Romantik“ eine materialreiche und fundierte Darstellung der Entstehung des bürgerlichen Bildungshumanismus, gerät der zweite Teil über „Zerstörung und Pop“ zum Theoriemix, der seiner eigenen Tempovorgabe nicht nachkommt: Die Musik- und Kunst-Beispiele, die Sanders für ein „Selbstbildungsmodell“ aktivieren möchte, bleiben beliebig. Sanders kokettiert mit einem Postmodernismus, der der Gewalt des Neoliberalismus wenigs-tens noch die Ironie abgewinnen möchte. Und er plädiert für einen „prozessualen Begriff gelingenden Lebens“, der nötig sei, um „die kulturelle Evolution“ (Rorty), die sich in der Generation X ereigne, zu entdecken.

Wenn querbeet Sartre, Lacan, Foucault, Marx, Derrida, Adorno, Lyotard aus der Plattenkiste gezogen werden, wirkt die Emphase unglaubwürdig, mit der Sanders methodisch, theoretisch und auch politisch Brisantes andeutet; was als grandiose, fundierte Analyse beginnt, wird zur gewaltigen Zitatschlacht, an deren Ende das scheinradikale Credo des Konkurrenzsys-tems steht: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Nun mögen gerade Versprechen und metaphorische Überhöhung des Vorhabens in der Popkultur als jenes Moment von Selbstbildung begründet werden, das in ihrem Sinne ist; man hätte dann aber lieber mehr Aphex Twin als Rockers Hi-Fi, mehr DJ Storm als Westbam gehört. Sanders' Studie zur einer Theorie der Selbstbildung verheimlicht wenigstens nicht ihre Widersprüchlichkeit, provoziert und ist streitbar.

Olaf Sanders: Romantik Zerstörung Pop. Studien zu einer Theorie der Selbstbildung, Leske + Budrich 2000, 300 S. brosch., 64,00 DM