Menschliches Morphing

Zwölf Jahre „Tanz im August“ bedeuten eine kleine Geschichte des Erfolges. Ein Gespräch mit Ulrike Becker und André Thériault, künstlerische Koleiter der Festivals, über Berliner Kulturpolitik, Bilder, Befindlichkeiten und eine neue Rückkehr zur Bewegung

 taz: „Tanz im August“ begann 1988 als Entwicklungshilfe für den Tanz in Berlin. Hat sie gefruchtet?

Becker: Anfangs war es schwierig, mit Tanz überhaupt einen Fuß in die Tür zu kriegen. Da waren wir weit entfernt von ausverkauften Häusern; manche Gruppen traten vor 30 Leuten auf. Mittlerweile nimmt das Publikum das Tanzfest an: Letztes Jahr kamen 15.000 Zuschauer. Der Tanz in der Stadt ist spannender geworden, der Weg von Sasha Waltz an die Schaubühne hat viel Interesse an Tanz geweckt. Zudem sind immer mehr Berliner Künstler wie Xavier LeRoy, Anna Huber und Thomas Lehmen in der internationalen Szene präsent.

Seitdem das Festival besteht, wird auch regelmäßig der Wunsch nach einem Tanzhaus geäußert, das für Proben, Aufführungen, Weiterbildung offen steht. Er war politisch nichtdurchsetzbar. Auch das Konzept für das BerlinBallett, das den Ensembles der Opernhäuser mehr Autonomie einräumen soll, wird immer wieder ausgebremst. Fehlt es am politischen Willen?

Becker: Die Politik zeigt wenig Risikobereitschaft, wirklich etwas für das Ballett zu tun. Das Problem der Finanzierung der drei Opernhäuser scheint Vorrang zu haben. Das gilt auch für das Tanzfest: Die Stadt geht damit hausieren, aber vor einen eigenen Haushaltstitel drückt man sich seit Jahren. Ich habe Bedenken, dass in der Diskussion um das BerlinBallett der zeitgenössische Tanz unter den Tisch fällt.

Thériault: Für den zeitgenössischen Tanz gibt es keinen Beauftragten und kein Konzept, wie man zum Beispiel die freien Tanzveranstalter – Sophiensäle, Podewil, Theater am Halleschen Ufer, Dock 11, Pfefferberg – stärken kann. Für uns ist die Unterstützung durch den Hauptstadtkulturfonds und durch die Vertretungen der Länder, aus denen die gastierenden Künstler stammen, elementar.

Ihr habt immer wieder Künstler eingeladen, die sich von der Choreografie wegbewegt haben, wie Jerome Bel, Xavier LeRoy, Meg Stuart, Emile Greco. Warum war diese Entwicklung so wichtig?

Becker: Deren Körperbilder passen in keine Sparte wie Tanz oder Theater, aber es geht um Befindlichkeiten in einer Welt, die immer mehr durch Bilder bestimmt wird. Statt einem erlernbaren Vokabular haben die Künstler Alltagsbewegungen erforscht. Wahrscheinlich ist der Höhepunkt dieser Entwicklung jetzt vorbei, und das nächste Jahrzehnt bringt eine Rückkehr zu mehr Bewegung und Choreografie im klassischen Sinn. Dafür stehen im diesjährigen Programm die Gruppen aus London.

Als inhaltliches Stichwort zu den Choreografien von Meg Stuart und Fin Novembre taucht der Begriff „Morphing“ auf. Da denke ich an Filmtricks, wenn sich zum Beispiel der Terminator, eben noch zerschossen, wieder neu aufbaut.

Thériault: Es geht um die Transformation des gewöhnlichen Menschenwesens, in jedem Sinne. Meg Stuart schafft das ohne Hilfe von Elektronik und Computern, nur mit dem Körper. Am selben Abend wird Rachid Ouramdane mit Hilfe von Video und Überwachungskameras die Manipulation am Bild des Menschen zeigen.

Wie seid ihr auf die russische Gruppe Saira Blanche Theater und die Japanerin Un Yamada gekommen, die beide hier unbekannt sind?

Thériault: 25 bis 30 Dienstreisen machen wir im Jahr, hauptsächlich in Europa. Saira Blanche habe ich in Tallin gesehen. Die traten an einem langen Tag als letzte auf, um Mitternacht. Das Trio improvisiert nur, die Präsenz der Darsteller ist unglaublich. Diese Leute kommen aus der bildenden Kunst, einer ist Architekt gewesen, einer hat Psychologie studiert. In Deutschland waren sie bisher völlig unbekannt.

Becker: An Japan hat uns interessiert, was nach den bekannten Künstlern wie Saburo Teshigawara oder Dumb Type kam. Da entsteht eine neue Szene, die schwer zu finden ist. Sie tritt in Galerien, Cafés und Clubs auf, ohne Produzenten, die sie unterstützen. Auf einer Plattform in Yokohama habe ich Un Yamada kennen gelernt. Sie war die eigenwilligste und hob sich von den bekannten japanischen Gruppen ab, die viel mit High-Tech und neuen Medien arbeiten. Bei ihr entsteht aus traditionellen Elementen und zeitgenössischem Tanz etwas ganz Eigenes. Es geht um Frauen in der Großstadt und die Diskrepanz zwischen traditionellen Werten und der schnelllebigen modernen Gesellschaft.

Wohin wird sich der Tanz bewegen in den nächsten Jahren?

Thériault: Wenn wir genug Geld hätten, könnten wir eine ganze Reihe mit japanischen Künstlern machen. Auch in Russland verändert sich viel. Da ist eine bestimmte Ästhetik zu spüren, die auf uns noch sehr fremd wirkt, Fantasien, denen man anmerkt, dass sie von woanders herkommen. Da werden sicher Schwerpunkte der nächsten Programme liegen.

Interview: KATHRIN BETTINA MÜLLER

Programminformationen unter www.tanzwerkstatt.bkv.org und www.hebbel-theater.de