normalzeit: HELMUT HÖGE über Obdachlosigkeit
A book a day keeps reality away
Gerade wurde offiziell vermeldet: Die Zahl der Obdachlosen ist weiter zurückgegangen – infolge des anhaltenden Baubooms. Auch die Zahl der Selbstmorde nahm ab. Dazu wurden jedoch keine Gründe angegeben.
In der U-Bahn stieß ich neulich auf einen ungewöhnlich gut aussehenden und sehr gut verkaufenden „strassenzeitung“-Verkäufer – namens Will-Frieden Sabelus-Frach. Es gibt ein Buch – von Friederun Pleterski – über ihn, mit dem Titel „Vogelfrei“.
In den Siebzigerjahren war er aus der DDR in den Westen geflohen, wo sich zahlreiche Frauen in ihn verliebten, er kiffte, kellnerte – und kehrte dann in den Osten zurück, wo man ihn erst einmal einsperrte. Willi wurde darüber Christ. Anschließend ging er mit seiner Ente Elsa auf Wanderschaft. Zurück in der DDR schrieb er für das Neue Deutschland. Schließlich landete er auf einem Kärntner Bergbauernhof, wo er mit seinem Wollschwein Erna zusammenlebte. Nun ist er der wohl beste „strassenzeitung“-Verkäufer Berlins.
Aber der Chefredakteur Karsten Krampitz ist auch nicht ohne: Gerade erschien im Kramer-Verlag sein Buch „affentöter“. Es handelt von der kurzen Geschichte des Obdachlosenzeitungs-Gerangels in Berlin, worin der Autor eine nicht geringe Rolle spielte. „Das Problem ist nicht Verwahrlosung, Ungeziefer, Fußgeruch. Was man gerade erlebt, ist ein Kulturkampf . . .“, heißt es auf der letzten Seite.
Eher um einen Wiederaufstiegskampf geht es bei Lee Stringer: Der Redakteur der New Yorker Obdachlosenzeitung „Street News“ war schwer cracksüchtig. In seinem – jetzt auch auf Deutsch vorliegenden Buch – „Grand Central Winter“ berichtet er von seiner Heilung – ganz im Stil einer amerikanischen Success-Story.
Und dann gibt es da auch noch eine Frau namens Hildegard Wohlgemuth, die bereits seit 50 Jahren bettelt. Auf ihren Schildern steht: „Arme Oma bittet Sie um eine Spende. Ich bin schizophren, höre Geister und Stimmen“. Sie hält es nicht lange in Häusern aus, dafür hat sie jedoch viele Freunde auf der Straße. Hildegard Wohlgemuth malt Kinderbilder. Einen Teil ihrer Werke veröffentlichte der Freiburger Kore-Verlag – zusammen mit der von Irene Stratenwerth und Thomas Bock auf Kinder zugeschnittenen Lebensgeschichte der Malerin: unter dem Titel „Die Bettelkönigin“.
Genauso nennt sich absurderweise auch die Frau des Westberliner Immobilienkönigs Klingbeil, weil sie immer mal wieder, um den Armen der Stadt zu helfen, bei ihren reichen Freunden „bettelt“.
Demnächst erscheint auch noch ein Buch aus der und über die Berliner Suppenküchen-Szene – von Gabriele Goettle. Wenn man der äußerst kundigen Autorin glauben darf, dann gibt es wegen der vielen leer stehenden Wohnungen nicht nur immer weniger, sondern schon längst überhaupt keine Not-Obdachlosigkeit mehr, bloß noch die selbst gewählte. Allerdings muss man dabei bedenken, dass einem inzwischen ja selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen werden! Aber da die letzten Obdachlosen fast alle Schriftsteller oder Maler, mindestens Lebenskünstler sind, die sich weder gezwungen noch freiwillig „on the road“ begeben, sondern quasi beruflich – macht auch diese Unterscheidung keinen Sinn mehr.
Der letzte „König der Obdachlosen“ hieß übrigens Gregor Gog. Er emigrierte nach Russland, wurde nach Usbekistan evakuiert, schrieb, kiffte – und starb. Seine Frau, Gabriele Stammberger, berichtet über sein „fading away“ in ihrer Biografie „Gut angekommen – Moskau“, das kürzlich im Basisdruck-Verlag erschien.
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