Schizophren: Er fliegt übers Kuckucksnest

■ Ein 54-Jähriger erwürgt in einem schizophrenen Anfall seine Mutter / Einen Nervenarzt hat er seit 1995 nicht mehr gesehen / Verantwortlich fühlt sich niemand

Die Mutter ist tod, erwürgt – ihr angeklagter Sohn schuldunfähig. Hätte der psychisch kranke Wolfgang M. seine Medikamente genommen, wäre vermutlich nichts passiert. Von einem „tragischen Hintergrund“ spricht der Richter am Bremer Landgericht, der gestern über den Fall zu entscheiden hatte: Für die nächsten Jahre wird Wolfgang M. jetzt auf der psychiatrischen Station des Zentralkrankenhaus Ost untergebracht – als einer von rund 50 Fällen, die jedes Jahr in Bremen vom Gericht in die Forensik überwiesen werden.

In der Regel zuckt man in solchen Fällen dann auch beim Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt zusammen: Hatten die früheren Ärzte Wolfgang M. womöglich falsch eingeschätzt? „Wenn es jemandem nach Jahren schlechter geht, ist es schwierig, das zu beurteilen“, erklärt eine Mitarbeiterin: „Das kriegt man meist nicht mit.“ Wenn dann bei einem Patienten über Jahre nichts vorliegt, könne man keinen auf ewig zwingen, zum Psychiatrischen Dienst oder zum niedergelassenen Nervenarzt zu gehen. Ohnehin gelten die als überlastet. Allein die Arbeit beim psychiatrischen Dienst sei in den Jahren „erheblich“ angestiegen, berichtet der Leiter des Gesundheitsamts Jochen Zenker. Trotzdem sollen dort in Zukunft rund 1,5 Stellen pro Jahr eingespart werden.

Auch bei Wolfgang M., der zurückgezogen bei seiner Mutter in Osterholz lebte, hat offenbar niemand mitbekommen, dass sich sein Zustand im vergangenen Herbst akut verschlechtert hatte: Zwar war der unter Schizophrenie leidende seit 1961 regelmäßig im Krankenhaus in psychiatrischer Behandlung – zum letzten Mal 1995. Dann hörte er irgendwann einfach auf, zum Arzt zu gehen und seine Tabletten zu schlucken. Bei Wolfgang M. war das nicht weiter auffällig: Er leidet unter einer „sehr symp-tom-armen Form der Schizophrenie“, erklärte ein Gutachter dem Gericht.

Die vergangenen vier Jahre verliefen „relativ ruhig“ bis zum Urlaub im letzten Herbst auf Ibiza: Dort fühlte sich der 54-Jährige auf einmal beobachtet und verfolgt, er hörte Stimmen, die ihn rastlos und aggressiv machten. Zurück in Bremen wurde es nicht besser. „Ich lass Dich abholen“, glaubte er von seiner Mutter gehört zu haben. Panisch schlug er auf die 85-Jährige ein, würgte sie und wollte „endlich die Wahrheit hören“. Die Nachbarn riefen von dem Geschrei alarmiert schließlich die Polizei – zu spät.

Rund ein Prozent der Bevölkerung könnte psychiotisch werden, „ein Bruchteil davon gewalttätig – zumeist gegen sich selbst“, schätzt man im Gesundheitsamt: Die „Seltenheit“, das jemand für andere gefährlich wird, muss die Gesellschaft tragen.

Einige Jahre wird Wolfgang M. mindestens in der Klinik bleiben, schätzt man im Gericht, bis er gelernt hat, solche Krisen rechtzeitig zu erkennen. Mit Medikamenten könne er später durchaus wieder normal leben, hofft die Verteidigung: „Deswegen kann man jemanden ja nicht für 50 Jahre wegschließen.“ pipe