piwik no script img

Nigerias Bürger schützen sich selbst

Seit der Demokratisierung steigt in Nigeria die Gewaltkriminalität, und der Staat wirkt hilflos. In Reaktion darauf entstehen immer mehr lokale Milizen auf ethnischer Grundlage, die Polizeifunktionen übernehmen und „ihre“ Bevölkerungen schützen

aus Lagos JAHMAN ANIKULAPO

Sie tragen fantasievolle Namen: Oodua Peoples Congress, Bakassi Boys, Egbesu Boys, Meinbutu, Warri Youths. Ihre Mission ist einfach: Sie übernehmen Funktionen der Polizei. In mehreren Teilen Nigerias bieten diese ethnischen Milizen mehr Sicherheit, als es die Polizei jemals getan hat. Die Yoruba-Miliz „Oodua Peoples Congress“ (OPC) in und um Lagos macht das so: Ihre Aktivisten besetzen eine Straße, dringen in das Haus vermuteter „Verbrecher“ ein, verhaften die „Verbrecher“ und zünden sie öffentlich an. Die Igbo-Miliz „Bakassi Boys“ im Südosten Nigerias, die erfolgreichste unter den ethnischen Milizen, legen lieber Hinterhalte auf Straßen.

Nigerias Polizei ist demgegenüber in den Augen der Bevölkerung hilflos, unfähig, unterbesetzt, schlecht ausgebildet, unmotiviert, unterbezahlt, korrupt und verachtet. Das liegt daran, dass Nigerias Militärdiktaturen 1984 bis 1999 das Militär bevorzugten und statt Polizisten lieber hoch gerüstete Spezialtruppen auf die Straße schickte.

In Reaktion auf die Militarisierung der Verbrechensbekämpfung militarisierte sich auch die organisierte Kriminalität. Heute, sagt ein Soziologe an der Universität Lagos, sei „Zahltag“. Mit der neuen Demokratie „kehren die Verbrecher in die Gesellschaft zurück“. Die seit der Demokratisierung 1999 zu beobachtende Explosion von Gewaltkriminalität sei eine Spätfolge der Diktatur. Zugleich zog sich das Militär mit dem Ende seiner Herrschaft in die Kasernen zurück, und die vernachlässigte und verachtete Polizei stand plötzlich allein da. So setzen die meisten Nigerianer lieber auf die Milizen ihrer jeweiligen Ethnie – zumal die neue Regierung von Präsident Olusegun Obasanjo es abgelehnt hat, die Verantwortung für die Polizei zu dezentralisieren und in die Hände der Bundesstaaten zu legen. Die Milizen sind Ersatz für die fehlende Institution einer lokalen Sicherheitskraft.

Die Zentralregierung reagiert darauf paranoid. Letzte Woche erließ sie ein Verbot aller ethnischen Milizen und beauftragte den Polizeichef, sie zu bekämpfen. Gemeint war insbesondere der OPC in Lagos, dessen Anhänger sich mehrfach mit der Polizei blutige Schlachten geliefert haben. Der OPC entstand unter der Militärdiktatur am radikalen Rand der Demokratiebewegung als Hort von Yoruba-Separatisten und nimmt daher eine heikle politische Stellung ein.

Während die Provinzregierung von Lagos den Kampf gegen den OPC gutheißt, genießen die „Bakassi Boys“ im Igbo-Gebiet des südöstlichen Nigeria die Unterstützung der lokalen Politiker. Die Provinzregierung des Bundesstaates Anambra hatte sie kürzlich sogar förmlich aufgefordert, die wichtige Handelsstadt Onitsha von Banditen und Räubern zu säubern, was sie auch taten. In Reaktion auf den Verbotsbeschluss der Zentralregierung sagte Anambras Gouverneur Chinwoke Mbadinuju, er und sein Volk hätten kein Vertrauen in Nigerias Polizei. Die Bakassi Boys sollten „uns helfen, die Verbrecher zu verjagen, die die Händler terrorisieren und den freien Fluss der wirtschaftlichen Aktivitäten behindern“.

So blieb der Zentralregierung nichts anderes übrig, als das Verbot der Milizen wieder aufzuheben. Wenn die Gouverneure der Bundesstaaten wollten, dass auf ihrem Territorium Milizen operieren, sagte sie, habe sie keine andere Wahl.

Doch sollen nun die Gouverneure die Milizen kontrollieren und auch Verantwortung für ihre Aktionen und deren Folgen übernehmen. Am vergangenen Samstag sagte Nigerias Polizeichef Musliu Smith sogar, auch er überlege, den OPC und die Bakassi Boys in den Kampf gegen organisierte Kriminalität einzubeziehen.

Die Bevölkerung zieht aus all dem den Schluss, dass die Haltung der Regierung widersprüchlich ist. Der Kommentator Alabi Ojuore fragte: „Heißt das nun, dass der OPC, der einen langen Konflikt mit der Polizei hinter sich hat, jetzt frei operieren kann, ohne dass die Polizei schießt? Heißt das, dass der militante OPC-Führer Ganiyu Adams, der tot oder lebendig gesucht wird, nicht mehr auf der Fahndungsliste steht?“

Unklar ist auch, was die jüngste Linie der Regierung für die Ölfelder im Nigerdelta bedeutet, wo ebenfalls Milizen aktiv sind und gegen die Ausbeutung ihrer Region mit Geiselnahmen von Mitarbeitern der Ölkonzerne und Angriffen auf Ölfördereinrichtungen protestieren. „Wenn die Regierung den OPC und die Bakassi Boys in seinen Sicherheittsapparat integriert“, sagt der Politologe Ignatius Inaegbe, „muss es die Aktivitäten der Jugendlichen des Niger-deltas legitimieren, denn sie führen alle denselben Kampf.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen