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Täglich „eine ohne Darm“

Jenseits von Mitte, Teil 5: Gründe, nach Marienfelde zu fahren. Bei Jörg’s Curry Container hat der Chef zwei Jahre am perfekten Ketchup-Rezept für seine Wurst gefeilt – „ohne Konservierungsstoffe“

von KIRSTEN KÜPPERS

Marienfelde ist ein ruhiger Bezirk am Stadtrand. Es gibt viele Reihenhaussiedlungen. Vor den Gartenzäunen parkt nicht selten ein Wohnmobil. Die Bewohner nennen ihre Häuser „Zweistöcker“, „Dreistöcker“ oder „Fünfstöcker“. Sie sagen, man könne hier „schön wohnen“. Wer mit dem Hund spazieren geht, werde in diesem Stadtteil noch nicht ausgeschimpft. Die Aggressivität scheint hier geringer zu sein als anderswo.

Das bedeutet jedoch nicht, dass auch andere typische Berlin-Merkmale in Marienfelde fehlen. Die Imbisskultur ist zum Beispiel mit einem besonders schönen Exemplar vertreten: Jörg’s Curry Container. Eine gelbe Wellblechbude, Hranitzkystraße Ecke Marienfelder Allee.

Der Chef isst selbst „täglich eine ohne Darm“. Die Topqualität seiner Curry-Würste ist nicht zuletzt schuld daran, dass der Laden inzwischen mehr abwirft als die 35 Mark Tageskasse von 1968. Zu diesen Konditionen hat Jörg Linke den Imbiss damals übernommen. Er war Bäckermeister und seine Ehe kaputt. Für das neue Lebensmodell lernte er die Vornamen seiner Stammgäste, entließ alkoholkranke Verkäuferinnen und feilte zwei Jahre an perfekten Ketchup- und Majonäse-Rezepten. Siegessicher serviert er immer noch „ohne Konservierungsstoffe“.

Die Stimmung am Curry Container ist dementspechend gut. Die Kunden schubbern ihre Ellenbogen an hohen Bistrotischen mit geblümtem Plastiküberwurf. Die Portionen sind groß, billig und auf Wunsch mit Zwiebeln. Es herrscht viel Betrieb. Ein Junge holt sich sein Essen in einer Plastiktüte ab. Handwerker tragen satte Feierabendgesichter. Zwei Seniorinnen kaufen unternehmungslustig „sechs Curry und sechs Brötchen“.

Hinter der Bude ist sandiges Gelände. Die Brache besteht seit dem Krieg. Schrammelige Bretterverschläge drücken sich aneinander. Dazwischen wuchert Grün. Ein weißes Huhn irrt umher. Die Hühner braucht Linke für das frische Rührei im Frühstücksangebot. Außerdem pflanzt er Gemüse an. „Es gibt Bezirke, wo mehr los ist“, sagt er. Es gibt Bezirke, wo die Imbisse weniger ländliche Hausmannskost-Atmosphäre vermitteln.

Der gemeinsame Verzehr deftiger Speisen am Container schafft gemütliche Solidarität unter der ungleichen Kundschaft. Ein Betrunkener tanzt mit seligem Lächeln durch die kleine Currywurst-Gemeinde. Wenn nötig, geht ein Esser rücksichtsvoll einen Schritt zur Seite. Wohlwollend blickt man auch auf einen Renter mit Jägerhut, der neben seiner „schlesischen Riesenwurst“ demonstrativ eine Arzneimittelpackung zur Darmregulierung aufbaut. Ein Fernfahrer am Tisch nebenan hat ein „Gott mit uns“-Tattoo auf dem Arm. Er sagt, es müsse „ein extremer Notfall eintreten“, bevor er einen anderen Imbiss aufsuche.

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