: Der Wahnsinn trägt XXL
BMX-Fahrer, Skateboarder und Skysurfer sind auf der Suche nach dem schmalen Grat zwischen Szene-Glaubwürdigkeit und kommerziellen Interessen – gerade bei den heute beginnenden X-Games
von OKE GÖTTLICH
San Francisco wird dieser Tage von Menschen heimgesucht, die eigentlich viel lieber Vögel wären. Mit ihren Sportgeräten veranstalten sie abenteuerliche Sperenzien auf noch abenteuerlicheren Bauten. Salti, Pirouetten und Sprünge werden mit Fahrrädern, Skateboards oder Rollen unter den Füßen auf Rampen, Halfpipes und Walls vorgeführt. Wahnsinn und Stürze inklusive. Ikarus lässt grüßen. Sechs Tage lang werden am Pier 30/32 an der San Francisco Bay neben Sportarten wie Skateboarding oder BMX auch Skysurfing, Wakeboarding, Motocross und Klettern vorgeführt.
Doch die sechsten X-Games sind mehr als die alternativen Olympischen Spiele für individuelle Straßensportler und andere Freaks. Denn extreme Sportarten stehen bei langweiligen Firmen ganz oben auf der Sponsorenliste. Das Eigenwillige des Sports wird schnell zum extravaganten Kick für die Marke hochstilisiert. Der Hype wird zum Flash für den biederen Konsumenten. Image ist alles.
Für die 350 SportlerInnen – mehr als die Hälfte davon sind bereits Profis – geht es neben den Medaillen auch um knapp eine Million Dollar Preisgeld. Immerhin 275.000 Besucher waren 1999 bei den letzten X-Games (ebenfalls in San Francisco) dabei, als Tony Hawk als erster Skateboarder überhaupt die monumentale 900-Grad-Drehung in der Halfpipe stand. Danach folgten Werbeauftritte und ein unter seinem Namen vermarktetes Videokonsolenspiel.
Direkt nach den ersten X-Games 1995 in Newport entschied sich der amerikanische Fernsehsender ESPN, die Spiele in den folgenden Jahren zu übertragen, und finanziert die Veranstaltung zum Teil. Inzwischen sind bewegte Bilder weltweit zu sehen, in Deutschland im Spartensender Eurosport.
Sportverbände, die zurzeit reihenweise um Fernsehzeiten buhlen, ist diese Entwicklung ein Dorn im Auge. Nicht nur die Vereinsmitgliedschaften sinken im Zuge der Individualisierungstendenzen im Freizeitverhalten, sondern auch Fernsehsender setzen zunehmend auf die spektakulären Bilder von Alternativsportlern.
Eine Entwicklung, die mit einem unheimlichen Engagement der Aktiven selbst zu tun hat. Es ist eine unabhängige Infrastruktur entstanden, die eher mit der im Musikgeschäft zu vergleichen ist als mit dem üblichen Sportmarkt. So wie sich Indie-Labels und große Plattenfirmen des Öfteren relativ verständnislos gegenüberstehen, haben auch die großen Sportartikler und die X-Szene ihre Schwierigkeiten miteinander.
So betreiben zwei der bekanntesten X-Legenden, der zehnmalige BMX-Halfpipe-Weltmeister Mat Hoffmann und Skateboarder Tony Hawk, seit Jahren eigene Firmen, die sich ganz speziell nur um ihren Sport kümmern. Der 28-jährige Hoffmann führt gleich acht Firmen, die nicht nur BMX-Zubehör herstellen und vertreiben, sondern auch die X-Games organisieren und vermarkten. „Durch die X-Games besteht die Möglichkeit, Leute vor den Fernsehschirmen zu erreichen, die sich nicht einmal erträumt haben, dass es solche Sportarten überhaupt gibt“, erklärt Hoffmann. Folgt man seiner Philosophie, dann kanalisiert er nicht nur alle kommerziellen Interessen der Sportartikel- und Werbeindustrie, sondern verhindert durch sein selbstengagiertes Auftreten als Sportler und Geschäftsmann auch den Ausverkauf des Sports.
Auch für die deutschen BMX-Fahrer Matti Röse, Markus Wilke und Michael Steingräber, die sich für die X-Games qualifiziert haben, ist die Teilnahme nicht nur eine sportliche Herausforderung, sondern vor allem eine Möglichkeit, etwas Geld mit ihrem Sport verdienen zu können. Längst aber gibt es viele Fahrer, die die bunte Bühne der X-Games scheuen, weil es ihrem Lebensmotto vom Skaten oder Biken nicht mehr entspricht. Aus ihrer Sicht können Wettkämpfe ihren Sport nur bedingt wiedergeben. Zeitliche Begrenzungen und künstlich hergestellte Treppengeländer oder Rampen stoßen manchen Straßenfahrer ab. Denn mit der ursprünglichen Idee des urbanen Treffs mit dem gemeinsamen Interesse, an neuen Tricks zu feilen, hat ein zeitlimitierter Wettkampf nichts zu tun. „Die BMX-Szene braucht mit Sicherheit auch eine Erdung durch möglichst authentische Wettbewerbe“, sagt Hoffman. Auch dieses Marktsegment bedient er, indem er in den USA eine spezielle Veranstaltungsreihe für diese unabhängigen Fahrer gründete. Mit der CFB-Serie, was für Crazy-Freaky-Biking steht, sollen die Fahrer angesprochen werden, die weiter tapfer an den Ursprungsgedanken des Sports, am Abhängen und Radfahren festhalten.
Welch unglaubliches geschäftliches Talent Hoffman sein muss, zeigt die Tatsache, dass es bei CFB zwar eigentlich nur ums Saufen und Biken geht und er aus Credibility-Gründen fast nur seine eigenen Firmen als Sponsoren antreten lässt, trotzdem aber TV-Übertragungen zustande bekommt. „Aber die Sendungen werden von mir produziert und auch moderiert“, verspricht Hoffman, „alles wird komplett von den Fahrern gemacht.“
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