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Ein Grab mit 757 ertrunkenen Statisten

Ein amerikanischer Millionär und die deutsche Filmproduktionsfirma Top Story wollen das Wrack der vor sechs Jahren gesunkenen „Estonia“ erneut untersuchen. Top Story will den Grund für die Havarie ermitteln – und anschließend einen Polit-Thriller über den Untergang der Fähre drehen

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Das Wrack der am 28. September 1994 in der Ostsee gesunkenen Fähre „Estonia“ ist ein Grabplatz. Es ist von den Regierungen der skandinavischen Ostsee-Anrainerstaaten gesetzlich zum Unterwasserfriedhof für die im Wrack Verbliebenen 757 der insgesamt 852 Toten erklärt worden. Tauchen ist dort nicht erwünscht, nach manchen nationalen Gesetzen sogar strafbar. Doch für den 23. August ist der Beginn einer vier- bis fünftägigen Tauchaktion geplant, die genau diesen Grabfrieden verletzen wird. Mitfinanziererin ist unter anderem die deutsche Fernseh- und Filmproduzentin Jutta Rabe. Sie ist Geschäftsführerin der Potsdamer Filmproduktionsfirma Top Story und außerdem Produzentin eines Spielfilms, dessen Drehbeginn für den nächsten Monat geplant ist: „Code: Baltic Storm“. Nach Eigenwerbung ein „Politthriller über die Hintergründe des Untergangs der Ostseefähre ,Estonia‘“.

Tauch- und Werbeaktion

Die Tauchaktion und das dabei gewonnene Filmmaterial soll offenbar Futter sowohl für diesen Spielfilm wie auch andere Produktionen von Top Story („Spielfilme für Kino und Fernsehen, Dokumentarfilme und Reportagen“) abwerfen und schon mal vorab die Werbetrommel für „Code: Baltic Storm“ rühren.

Die geplante Tauchaktion wird in Schweden, Finnland und Estland von den dortigen Regierungen scharf verurteilt. Rechtlich allerdings ist Staatsangehörigen aus Ländern wie den USA und Deutschland, die das Grabfrieden-Abkommen nicht unterzeichnet haben, nur beizukommen, wenn sie den Fuß auf skandinavischen Boden setzen. Und das dürften sie tunlichst vermeiden.

Die Aktion stößt aber bei der Öffentlichkeit und den Überlebenden der „Estonia“ auf ein kontroverses Echo. Ausgeführt wird sie von einer der schillerndsten Personen der Taucherbranche: dem 72-jährigen US-Multimillionär Gregg Bemis. Ihm gehört das Unternehmen Deep Ocean Engineering, dessen Aktivitäten von der Herstellung von Unterwasserkameras bis zu Tauchoperationen und Handel mit Militärbedarf reichen.

Bekannt geworden ist er vor allem durch einen der geplanten „Estonia“-Aktion ähnlichen Tauchgang zum Wrack der gesunkenen „Lusitania“. Danach machte er das Eigentumsrecht an diesem Wrack geltend und bekam es nach jahrelangen Prozessen von einem US-Gericht tatsächlich zugesprochen. Begründung: Er war dort unten und konnte anschließend sein Eigentumsrecht behaupten.

„Lusitania“ wie „Estonia“ liegen in internationalen Gewässern auf dem Meeresboden. Ein im Seerecht noch weithin rechtsfreier Raum, den Wrackplünderer und Leute mit dem erforderlichen finanziellen Rückgrat wie Bemis auszunutzen wissen. Manche der Angehörigen der „Estonia“-Opfer haben Angst, Gregg Bemis könne das gleiche Ziel verfolgen wie mit der „Lusitania“, deren geborgene Gegenstände in ein Museum wandern sollen: außer Reklame für sich und sein Unternehmen ein Geschäft machen.

Die in dieser Woche bekannt gewordenen Hintergründe um die Finanzierung des rund 400.000 Mark teuren Projekts – nach Angaben von Bemis teilen er und Jutta Rabe sich die Kosten – sind natürlich nicht geeignet, dieses Misstrauen zu mindern. Von wem die Initiative für das Unternehmen ausging, bleibt im Dunkeln. Bemis sei gefragt worden und habe Jutta Rabe im Frühjahr letzten Jahres kennen gelernt.

Offiziell haben beide natürlich die allerbesten Absichten: Licht in die angeblich von den skandinavischen Regierungen absichtlich verschleierten wahren Hintergründe der Katastrophe zu bringen. Die „Estonia“ sei nicht wegen ihrer Fehlkonstruktion, mangelndem Unterhalt und unverantwortlicher Fahrweise in der fraglichen Orkannacht gesunken, sondern habe ein Loch im Rumpf gehabt. Vielleicht wird dies auch ganz zufällig der rote Faden im Drehbuch von „Code: Baltic Storm“ sein. Wie dieses Loch in eine 12 Millimeter dicke Stahlwand hineingekommen sein soll, welches Interesse die Regierungen der Länder daran haben, dies zu vertuschen – diese Fragen soll die angeblich für nächste Woche geplante Störung des Grabfriedens klären.

Suche nach dem Leck

Eine Wette kann man wohl getrost jetzt schon abschließen: Falls man das ominöse Loch nicht findet, wird man sicher genügend andere vermeintliche oder tatsächliche Fragezeichen an der offiziellen Untergangsthese dort herumschwimmen sehen. Denn „ohne Spesen nichts gewesen“ ist kein erstrebenswertes Resultat, schließlich soll der Politthriller 15 Millionen Mark kosten. Die Gefühle der Angehörigen, die für diesen letzten Grabplatz gekämpft haben, kommen in der Medienkalkulation offenbar nicht vor.

Gregg Bemis sagte der schwedischen Tageszeitung Expressen: „Das Meiste, was in diesem Leben spannend ist, hab’ ich eben schon gemacht.“ Und Jutta Rabe will das Filmmaterial verkaufen. Das ZDF hat dem Vernehmen nach bereits ein Schiff gechartert, um bei der Tauchaktion so nah wie möglich vor Ort zu sein.

Dass Moral aber kein Fremdwort ist, auch wenn es um millionenschwere Interessen geht, hat die Meyer-Werft in Papenburg bewiesen. Sie steht als Schiffskonstrukteurin schon jahrelang unter schweren Beschuldigungen, mitverantwortlich für das Unglück zu sein. Obwohl sie an der von Bemis und Rabe initiierten „Aufklärungs“-Aktion größtes Interesse haben müsste, hat sie entrüstet abgesagt, sich an dem Spektakel zu beteiligen.

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