: Dissidenz ist ein rotes Tuch
Global konsensfähige glückliche Enden: Der chinesische Regisseur Zhang Yimou durchkreuzt mit seinen beiden neuesten Filmen „Keiner weniger“ und „Heimweg“ typische an ihn gerichtete Erwartungshaltungen und pocht auf das Recht, auch Filme ohne eindeutige politische Bezüge drehen zu dürfen
von KATJA NICODEMUS
Ein chinesischer Film darf nicht einfach Film sein. Um im Westen anzukommen, sollte er eine Prise Wan-Tan-Realismus liefern, möglichst von den Gegensätzen Institution/Individuum, Stadt/Land bzw. Tradition/Moderne erzählen, vor allem aber muss er ein bisschen dissidentlerisch daherkommen oder wenigstens so tun. Politisches Engagement bzw. metaphorisierte Regimekritik wird hierzulande geradezu selbstverständlich von den Künstlern aus der Volksrepublik erwartet, und genauso selbstredend verleumdet man das Ausbleiben von Dissidenz gerne als affirmative, wenn nicht sogar reaktionäre Haltung.
Als die beiden neuen Filme von Zhang Yimou letztes Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes abgelehnt wurden, unterstellte der Regisseur der Festivalleitung genau diesen anmaßenden Rezeptionsreflex und forderte in einer Erklärung das Recht ein, als chinesischer Regisseur auch Filme ohne eindeutig politische Bezüge drehen zu dürfen. Das Problem von „Keiner weniger“ (seit 10. August im Kino) und „Heimweg“ (ab 24. August) ist allerdings nicht irgendein Vorurteil gegenüber der chinesischen Kinematografie, sondern eine durchaus Zhang-Yimou-immanente Erwartungshaltung.
Zhang ist einer der wichtigsten Vertreter der so genannten fünften Generation chinesischer Regisseure, und sein Berlinale-Gewinner von 1988, „Das rote Kornfeld“, stand am Beginn einer weltweiten Aufmerksamkeit für das postmaoistische Kino. Die von diesem Film ausgelöste Erschütterung rührte von der fast brutalen Sinnlichkeit, mit der „Das rote Kornfeld“ in eine verdrängte Kultur eintauchte: das chinesische Landleben, seinen Arbeitsalltag, seine jahrtausendealten Rituale. Die Farbsymbolik des Film mit seinen roten Brautgewändern, den blutenden Wunden und einer am Schluss blutrot erstrahlenden Sonne wurde zum Markenzeichen von Zhangs Filmfotografie, in der die Kulturgeschichte seiner Heimat immer auch ästhetisch reflektiert wird. Wenn Gong Li am Ende seines vierten Films „Die rote Laterne“ den Wächtern des altchinesischen Haushalts „Ihr Mörder!“ hinterherschreit, ist dies auch als Kommentar auf das kurze Zeit zurückliegende Massaker von Tiananmen zu lesen. Trotzdem ist der Film vor allem die Beschreibung einer feudalistischen Gesellschaft am Anfang des letzten Jahrhunderts – die strenge Hierarchie im Haushalt, das Warten der konkurrierenden Ehefrauen auf den nächtlichen Besuch des Herrn als Inbegriff einer dekadenten Erstarrung.
So konnte man auf ganz unterschiedliche Weise bisher in jedem Zhang-Yimou-Film etwas über China und seine Kulturgeschichte erfahren. Im Vergleich mit dem so kargen wie lebendigen Alltag in dem Provinzdörfchen aus „Die Geschichte der Qui Ju“ wirkt die Schilderung des Landlebens in seinen beiden neuen Filmen allerdings seltsam statisch. „Keiner weniger“ erzählt von einer Initiation ins Erwachsenenleben. Die dreizehnjährige Wei Minzhi soll in einem Dorf den Lehrer vertreten. Als einer ihrer Schüler von seiner armen Familie zum Arbeiten in die nahe Stadt geschickt wird, zieht das Mädchen aus, ihn zurückzuholen. Die chinesischen Lebensverhältnisse sind in diesem Film zu routiniert abgehakten Zeichen geworden. Die Schule ist verfallen, die Kreide knapp, und die junge Lehrerin erinnert sich kaum mehr an ein halbes maoistisches Lied – Zhang erstellt die Kurzdiagnose des Bildungswesens in der Provinz, um sich danach einer Rettungsgeschichte zu widmen. Ohnehin interessiert sich die Kamera mehr für die apfelbäckige Heldin, die auf der Suche nach dem ausgebüxten Schüler vorbildliche Energie entwickelt.
Noch pittoresker wirkt Zhangs weibliche Hauptfigur in „Heimweg“, der in Rückblenden von der großen Liebe zwischen dem jungen Dorflehrer Changyu und seiner Verlobten Zhao Di erzählt. Penetrant wippende Zöpfchen, niedliche Steppjacke und rot glühende Wangen fügen sich zum Bild einer folkloristischen Heldin, die immer wieder in ergebener Liebe ihrem Zukünftigen entgegenrennt. Einmal zerbricht ihr auf dem Weg eine kleine Schüssel mit Teigtaschen. Tränenreiches Drama.
„Keiner weniger“ und „Heimweg“ wurden vom asiatischen Ableger des US-Majors Sony-Columbia produziert. Man kann Zhang Yimou kaum vorwerfen, deshalb bewusst in den Mustern des amerikanischen Mainstreams zu erzählen. Doch seine neuen Arbeiten sind so harmlos und gefällig, dass sie offensichtlich den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen chinesischer Zensur und US-Geldgebern bilden. Am Ende beider Filme bekommen die Hollywood-Finanziers ihre Sentimentalitäten und die Chinesen ihre symbolische Rettung durch das Kollektiv bzw. die Institutionen: In „Heimweg“ tragen die einstigen Schüler des verstorbenen Lehrers seinen Sarg nach Hause, und in „Keiner weniger“ hilft eine staatliche Fernsehsendung, den abtrünnigen Kleinen zu finden. Global konsensfähige Happy Ends.
„Keiner weniger“. Regie: Zhang Yimou. Mit Wei Minzhi u. a. 106 Min. China 1999. „Heimweg“. Regie: Zhang Yimou. Mit Zhang Ziyi Luo und Sun Honglei Luo. 100 Min. China 1999
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