: Insekten beflügeln Kriminalisten
Viele Fliegen und Käfer nutzen menschliche Leichen als Lebensgrundlage und entlarven damit so manchen Gewalttäter. Tatsächlich können mit den makaber anmutenden Methoden der Insektenforscher ungeklärte Todesfälle gelöst werden
von MATTHIAS MANYCH
Die Leiche lag noch nicht lange im Wald. Dass es sich um Mord handelte, war eindeutig. Auch dass der Fundort nicht der Tatort war, konnte festgestellt werden. Insekten, die bereits auf der Leiche für Nachkommenschaft sorgten, lieferten die entscheidenden Hinweise: Die Larven stammten überwiegend von Fliegen, die nur in Ortschaften geeignete Lebensbedingung finden. Die folgenden Ermittlungen in der benachbarten Stadt führten schließlich zum Täter.
Die Aufklärung dieses Verbrechens aus dem vorigen Jahr hat für Jens Amendt vom Forschungsinstitut Senckenberg noch Modellcharakter. Er gehört zu einer vierköpfigen interdisziplinären Forschungsgruppe aus Biologen und Rechtsmedizinern, die seit 1997 in dem Projekt „Forensische Entomologie“ arbeitet. Getragen wird das in Deutschland neue Vorhaben vom Senckenberg-Institut und dem Zentrum für Rechtsmedizin der Universität Frankfurt am Main. Die Gruppe erforscht zunächst die Ansprüche von Insekten an den „Lebensraum Leiche“, da hierüber zuwenig bekannt ist beziehungsweise Ergebnisse aus anderen Staaten kaum auf die Umweltbedingungen in Deutschland übertragbar sind. Gleichzeitig informieren sie Rechtsmediziner und Kriminalpolizisten über die Anwendungsmöglichkeiten ihrer Disziplin.
Diesem Zweck diente auch der Vortrag, den Amendt vor kurzem am Institut für Rechtsmedizin der FU Berlin hielt. Eingangs stellte der Biologe klar, dass die forensische Entomologie „keine Wunderwaffe“ ist. Sie bietet aber bereits jetzt eine Palette von Techniken, die gleich am Fundort und bei der folgenden Obduktion entscheidende Bedeutung haben: Bestimmung der Leichenliegezeit, Nachweis nachträglicher Leichenverlagerung und chemischer Substanzen sowie Spurenmanipulation.
So nehmen Maden bei ihrem „Leichenschmaus“ unter Umständen Reste von Drogen oder Gift aus der Leiche auf, die in biochemischen Analysen nachweisbar sind. Selbst die DNA eines Toten ist auf diese Weise identifizierbar. So berichtete Amendt von einem Fall, bei dem die Leiche im Kofferraum eines Wagens transportiert und anschließend in der Gegend verscharrt wurde. Die von der Kripo im Kofferraum gefundenen Maden wurden auf menschliche DNA getestet. Das Ergebnis war positiv.
Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass die verschiedenen Insektenarten nur bestimmte Stadien des Leichenverfalls für die Entwicklung einer neuen Generation nutzen können. Daraus ergibt sich eine charakteristische Reihenfolge der Besiedlung von Leichen. So genannte Erstbesiedler sind vor allem Schmeißfliegen, aasverwertende Käfer treten als letzte Insektengruppe auf.
Entsprechend orientieren sich die Forscher an vier aufeinander folgende Leichenstadien: gerade eingetretener Tod, beginnende und fortgeschrittene Verwesung, Vertrocknung. Den Entomologen interessieren besonders die Insekteneier, Larven und Puppen. Das Alter von Maden lässt sich beispielsweise anhand ihrer Größe und der Ausprägung der Mundwerkzeuge bestimmen. Amendt ist der Ansicht, „dass in den ersten Wochen die Leichenliegezeit im optimalen Fall auf den Tag genau eingegrenzt werden kann“. Liegt der Todeseintritt mehrere Monate zurück, kann mit den jetzigen Kenntnissen nur der Monat oder die Jahreszeit angegeben werden.
Um diese Methoden mit mehr Vergleichsdaten zu verfeinern, werden in Frankfurt neue Konzepte entwickelt. So ist es vorstellbar, Tierkadaver unter Versuchsbedingungen zum Beispiel in Fahrzeugen, im Wasser oder bekleidet zu lagern. Hier können sämtliche Umweltfaktoren gemessen und den Entwicklungsstadien der Insekten zugeordnet werden. Weil es keine Aasinsekten gibt, die entweder nur Menschen oder Tiere besiedeln, können nahezu alle Situationen des Leichenverfalls mit tierischen Leichen simuliert werden.
Vor den versammelten Rechtsmedizinern und Kriminalpolizisten plädierte Amendt für die Einführung standardisierter Datenaufnahmen: „Man muss bedenken, dass die Daten vor Gericht gutachtlich verwendet werden müssen. Wenn dann unterschiedlich vorgegangen wird, bleibt die Methode durch einen entsprechend informierten Verteidiger immer angreifbar.“ Um die praktische Arbeit einfach und vergleichbar zu machen, ist im Forschungsprojekt ein Probenkoffer zusammengestellt worden. Darin sind zum Beisiel Gefäße für lebende und abgetötete Fliegen, Maden oder Käfer. Zusätzlich bieten die Frankfurter Wissenschaftler auch Schulungen an. Volkmar Schneider, Leiter der Rechtsmedizin an der FU Berlin, unterstützt die neuen Methoden der forensischen Entomologie und hat schon einen Probenkoffer für sein Institut angeschafft. Bundesweit steht er in sieben rechtsmedizinischen Instituten und mehr als 20 Polizeidienststellen zum Einsatz bereit.
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