: Die singende Seele
Apollinisches U-Bahn-Fahren und dionysisches Walkman-Hören: Rüdiger Safranski folgt in seiner neuen Biografie Nietzsches Denken über die Musik
von CHRISTIAN SCHLÜTER
„Es gibt keinen Zufall, alles was geschieht, hat Bedeutung.“ Also schrieb es der junge Nietzsche. Und er sollte Recht behalten, auch bei Rüdiger Safranskis gerade erschienenem Buch „Nietzsche – Biographie seines Denkens“; und zwar ist hier die Sache mit der Bedeutung besonders schnell erzählt. In Kürze, am 25. August, ist der 100. Todestag des Philosophen zu begehen. Mit diesem richtigen Timing hat, auch wenn Safranski in Sachen Nietzsche nichts wirklich Neues bietet, alles seine Ordnung. Zur Einstimmung auf das Jubliäum eignet sich das Buch bestens; es ist erbaulich geraten und flüssig geschrieben. Nach seinen Veröffentlichungen über Arthur Schopenhauer (1987), Martin Heidegger (1994) und die Unvermeidlichkeit des Bösen (1997) beweist Safranski auch diesmal sein Geschick für popularisierende Darstellungen.
Dabei hat sich Safranski einiges vorgenommen. Wie der Untertitel seines neuen Buches verrät, soll immerhin der Denkweg eines Philosophen rekonstruiert werden. Als durchgehendes Leitmotiv seiner Biografie dient ihm Nietzsches große Leidenschaft für die Musik. Ohne sie „wäre das Leben ein Irrtum“, so schwärmt Nietzsche; „die wahre Welt ist Musik, Musik ist das Ungeheure“, sekundiert Safranski. Doch keine Leidenschaften ohne Enttäuschung. Nach der Rückkehr von einem Wagnerkonzert schreibt Nietzsche an einen Freund: „Alles was sich gar nicht mit Musikrelationen erfassen lassen will, erzeugt bei mir geradezu Ekel und Abscheu. Und wie ich vom Mannheimer Concert zurückkam, hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch.“
Postsirenische Trauer
Ein echtes Lebensthema und Lebensproblem bricht sich Bahn. Nietzsche hörte Sirenengesang und empfindet nun ein Unbehagen in der Kultur. Es gibt ein Leben nach der Musik, und der empfindsame Nietzsche hat damit seine Schwierigkeiten. Seine Philosophie, so erläutert Safranski, entspringe einer „postsirenischen Traurigkeit“. Nur die Kunst und in Besonderheit die Musik erlauben die Flucht vor der grauenhaften Langeweile, mit der ihm das Leben entgegentritt.
Er flieht die Gespenster des Realen, die Niederungen des Alltags und die Einbrüche des Gewöhnlichen. Überall droht der Horror Vacui. Konventionen, Routinen und Floskeln erscheinen nur als wohlfeile Ausre- den vor dem Nichts. Dem will Nietzsche mit aller Kraft wehren. Das Programm einer ästheti- zistischen Wiederverzauberung der Welt entsteht, eine Neue Mythologie aus dem Geiste der Musik.
Alle Hoffnung richtet sich an eine neue, junge und kräftige Generation. Sie soll die Tristesse der Kultur heroisch überwinden. Doch Nietzsche selbst erfährt seine individuelle Existenz als zerrissen, als hin und her gerissen zwischen Ekel, Langeweile und erhabener Kunst – ganz schizo, ganz bürgerlich. Das Individuum Nietzsche begegnet sich als Dividuum, das Verhältnis zwischen „Ich“ und „sich“ wird ihm zum Problem. Lösen wird er es nur können, wenn er es als Chance begreift und das unversöhnte Selbstverständnis zur Selbstgestaltung und -steigerung nutzt. Die Zerrissenheit, das ewige Für und Wider muss überwunden werden. Wortmächtig schreibt sich Nietzsche in Rage, wie Safranski mit zahlreichen Zitaten belegt: Rhetorische Selbsterregung, autosuggestive Selbstermächtigung sollen einen Ausweg weisen.
Der antibürgerliche Affekt ist nicht mehr weit. Nietzsche will seiner selbst entraten und seiner Kultur – paradoxerweise um sich selbst zu (er)finden. Das muss, in seiner Absolutheit jedenfalls, schief gehen: Die treibende Kraft, die dionysische Gewalt des Lebens, der ungerechte Perspektivismus eigener höherer Zwecke sollen ans Licht der Erkenntnisse gesetzt, doch zugleich die abklärenden Effekte des Erkennens rückgängig gemacht werden. Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass. Doch es kommt, wie es kommen muss: Das überhitzte Sprachspiel der Selbstüberwindung bleibt eben doch ein Sprachspiel. Sprache ist nie nur privat oder aristokratisch, sondern immer auch öffentlich und demokratisch. Sprache ist vor allem träge und gewöhnlich, und niemals gänzlich asozial. Der Versuch einer heroischen Wiederbelebung der Kultur scheitert insofern kläglich.
Sprachartistik hin oder her, dieses Ungenügen sollte Nietzsche alsbald selbst erkennen: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele‘ – und nicht reden!“ Da ist sie wieder, die Musik, seine alte Leidenschaft, sein Allerheiligstes. Doch die Niederlage scheint total, denn „an sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll“, wenn der erkennende Intellekt nicht vorher Bedeutung in sie hineingelegt hat; ohne Kindheitserinnerungen, Bildassoziationen und Körpergefühle, also ohne kulturelle Prägungen bleibt sie ein „leeres Geräusch“. Die Aporien der Privatsprache ahnend und damit Wittgensteins Einsichten vorwegnehmend, entschließt sich Nietzsche zu einer radikalen Konsequenz: „Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen nur dadurch Philosoph bleibt, dass man – schweigt.“ Kleinlaut, aber wahr.
In diesem Zustand fortgesetzter Ernüchterung versucht Safranski nun, seinem Schützling beizuspringen, indem er eine Sphärentrennung vorschlägt, er nennt sie „Zweikammersystem der Kultur“. In der einen Kammer fließt der „Gluthstrom des Glaubens“ und der Leidenschaften, hier lodern Emotionen und Ressentiments, mit ihnen muss „eingeheizt“ werden; in der anderen Kammer herrschen wissenschaftliches Kalkül und politisches Maß, sie „kühlen“ den heroischen Furor.
Damit bleibt es bei der tragisch verfassten, dionysisch-apollinisch zerrissenen Kultur. Konflikte sind nicht zu vermeiden, aber durch geschicktes Herumlavieren zwischen den Sphären zu entschärfen. In der Folge Nietzsches wurde dies von Max Weber vertreten, heute empfiehlt es ganz pragmatisch Richard Rorty. Entlastende Dichotomisierungen dieser Art gehören zum modernen Repertoire.
Mythische Tiefe
Wie aber lassen sich die verschiedenen Sphären vermitteln? Diese Frage, so legt Safranski nahe, ist vielleicht falsch gestellt. Schließlich leben wir mit dem Unvereinbaren ganz ohne Problem: „Wer mit dem Walkman im Ohr in der U-Bahn sitzt oder durch den Park joggt, der lebt in zwei Welten. Apollinisch fährt oder joggt er, dionysisch hört er.“ Aber das ist nicht alles, einmal in der Gegenwart angekommen, legt Safranski beherzt nach: „Die Diskotheken und Konzerthäuser sind die Kathedralen von heute [...] Die Musikfluten kennen keine Grenzen, sie unterspülen die politischen Terrains und Ideologien, was sich in den Umwälzungen von 1989 gezeigt hat. Musik stiftet neue Gemeinsamkeiten, sie versetzt in einen anderen Zustand, sie eröffnet ein anderes Sein. [...] Die Musik ermöglicht eine soziale Tiefenkohärenz in einer Schicht des Bewusstseins, die früher einmal ‚mythisch‘ genannt wurde.“
Also spricht Safranski! Und man wundert sich: Mit der Allgegenwart von Jugend- und Popkultur sind sowohl die ideologischen als auch die sozialen Kämpfe verschwunden? Stattdessen soll es auf der Ebene „mythischer Tiefenschichten“ Friede, Freude, Eierkuchen geben, soll Dr. Motte eigentlich Zarathustra heißen und jenseits von Gut und Böse leben?
Insgeheim scheint auch Safranski immer noch in sympathetischen All- und Einheitshoffnungen zu schwelgen. Neue Mythologie und Ästhetisierung der Politik – mit einem „gekühlten“ Nietzsche aus der Gegenwart ins goldene Zeitalter des Nachideologischen. Warum Nietzsche jetzt? Warum in die Ferne schweifen, würde Safranski geantwortet haben, wenn das 19. Jahrhundert liegt so nah.
Rüdiger Safranski: „Nietzsche – Biographie seines Denkens“. Hanser Verlag, München 2000, 395 Seiten, 49,80 DM
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