Gefährliche blinde Passagiere

Jährlich schleppen Überseeschiffe Millionen von Pflanzen und Tieren aus ihren angestammten Verbreitungsgebieten in andere, wo sie viel Schaden anrichten können

BERLIN taz ■ Mindestens 7,7 Millionen blinde Passagiere aus außereuropäischen Ländern kommen täglich in Deutschland an. Dabei handelt es sich nicht um verzweifelte Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, sondern um Pflanzen und Tiere, die zwangsweise in den Ballastwassertanks von Schiffen mitreisen oder sich am Schiffsrumpf angesiedelt haben.

Zwar haben die meisten von ihnen hierzulande keine Überlebenschance. Doch immerhin 31 Arten, die Wissenschaftler vom Institut für Meereskunde in Kiel und vom Zoologischen Institut der Uni Hamburg bei 200 Stichprobenuntersuchungen entdeckten, könnten sich aufgrund ähnlicher Umweltbedingungen wie in ihrer Heimat auch in hiesigen Gefilden ansiedeln.

Die im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) in Berlin veröffentlichte Studie hat erstmals das ökologische Gefahrenpotenzial für die deutschen Küstengewässer durch die Einschleppung fremder Organisamen untersucht.

„Die Etablierung nichtheimischer Arten führte in den unterschiedlichsten Regionen der Welt zu schwer wiegenden ökologischen und ökonomischen Auswirkungen“, erklären die Forscher. Und darin liegt die Relevanz ihrer Untersuchung. So wurde die nordamerikanische Qualle Mnemiopsis leidyi, die sich am liebsten von Fischlarven ernährt, 1989 ins Schwarze Meer eingeschleppt. Weil sie dort so gut wie keine natürlichen Feinde hat, zugleich aber reiche Beute vorfindet, konnte sie sich innerhalb von wenigen Jahren massenhaft ausbreiten und das ökologische Gleichgewicht empfindlich stören. Das deutlichste Zeichen hierfür ist, dass Anchovis im Schwarzen Meer ausgesprochen rar geworden sind – die Fischer fahren nur noch knapp 10 Prozent der Menge ein, die sie früher von ihren Fangzügen mitbrachten.

Der weltweite Anstieg von Planktonblüten wird ebenfalls auf den Transport von Ballastwasser zurückgeführt. Zwei aus Südostasien stammende Kleinalgen sind heute an vielen Stellen der Erde verbreitet. Ihre Absonderungen wirken auf alle möglichen Lebewesen wie ein tödliches Gift. Auch diese beiden Arten fanden die Wissenschaftler an den untersuchten Schiffstanks an der deutschen Nord- und Ostseeküste.

Zwar gehen viele Forscher davon aus, dass die tropischen Lebewesen die hiesigen Wintertemperaturen nicht überstehen können. Aber Vorsicht ist geboten: Immer wieder wurde beobachtet, dass sich einzelne Tier- und Pflanzenarten als spontan anpassungsfähig erwiesen haben. Und gerade die beiden Gift absondernden Geißelalgen sind dafür bekannt, dass sie sehr flexibel sind und auch ungünstige Umweltbedingungen wie Temperaturschwankungen und differierende Salzkonzentrationen überstehen können.

Geschätzt wird, dass jährlich 10 Milliarden Tonnen Ballastwasser rund um den Globus transportiert werden, um eine ungleichmäßige Verteilung der Ladung auszugleichen und den Tiefgang der Schiffe zu erhöhen. Das Wasser wird bereits in Küstennähe aufgenommen und enthält oft auch Sedimente.

Schätzungsweise 3.000 Arten sind auf diese Weise ständig über ihre natürlichen Verbreitungsregionen hinaus unterwegs. Was sie in der neuen Heimat anrichten, ist oft nicht prognostizierbar: Denn die weit überwiegende Mehrheit der Organismen ist nicht einmal genau bekannt.

Die Wissenschalftler aus Kiel und Hamburg vermuten, dass Arteinschleppungen in Nord- und Ostsee vor allem im Sommer stattfinden können. Denn dann sind die Organismen auf ihrer Reise über die Weltmeere keinen so extremen Temperaturschwankungen ausgesetzt wie im Winter, wo es in den Baldlasttanks schon mal 25 Grad wärmer oder kälter werden kann – eine Belastung, der kaum ein Lebewesen gewachsen ist.

Schiffe sind heute der zentrale Faktor für die unbeabsichtigte Verbreitung von Arten. Die der UNO unterstehende International Maritime Organization (IMO) hat deshalb eine Richtlinie über den Umgang mit Ballastwasser entwickelt. Die Empfehlung ist allerdings nicht besonders weitreichend: Der Kapitän soll das Wasser nicht erst im Hafen, sondern bereits auf offener See abpumpen lassen. Weitere Massnahmen wie Erhitzen des Wassers, Filtration oder der Zusatz von chemischen Stoffen müssen noch untersucht werden.

ANNETTE JENSEN