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Ein Anschluss zur Welt

Der Bürgermeister spricht von Arbeitsplätzen, der Holzbildhauer will sich trotzdem keinen Fernseher kaufen

aus Geyer ANNETT MÜLLER

Haben Sie schon gehört, dass Geyer einen Flughafen bekommt? Sie fragen, was Geyer? Wo liegt das überhaupt? Im Erzgebirge. Klitzeklein. Dort sagt der Bürgermeister, wir brauchen eine bessere Infrastruktur, damit sich ein paar Firmen ansiedeln. Was denn? Deshalb soll Geyer gleich einen Flughafen bekommen? Aber nein, natürlich nicht. Das wäre zu verrückt.

Geyer blieb also das Kaff, von dem kaum einer weiß, wo es liegt. Bis eines Tages das sächsische Landwirtschaftsministerium verkündete, der Ort bekomme Internet. Jeder in Geyer sollte per Kabelanschluss und herkömmlichem Fernseher einen Zugang erhalten. Die Kleinstadt bekam Anschluss zur Welt. Muss das denn sein, fragten viele im Ort. Der Bürgermeister, Joachim Weiß, begann Reden zu halten, diesmal über das Internet. Er sprach über den ein oder anderen Arbeitsplatz, der dabei entstehen würde. Er sprach von „moderner Kommunikationstechnologie, in der man hin- und herfahren könne“. Zugegeben, der Bürgermeister klang etwas unbeholfen. Doch wer wusste im Ort schon etwas vom Internet?

Geyer ist ein Ort mit rund 4.500 Einwohnern und Wald ringsherum. Es gibt Landstraßen, der Bahnhof ist schon lange dicht. Nur hin und wieder fährt ein Bus. Es ist so ruhig in Geyer. „Das ist das Schöne hier“, sagt der Unternehmer Friedrich Blutner. In seinem Akustik-labor entwickelt er mit zehn Beschäftigten Klangbilder für Markenprodukte. Da knuspern Brötchen oder pappen – je nach Bedarf und Zustand.

Sicher hätte Blutner seine Firma anderswo aufbauen können, bei all den internationalen Auftraggebern. Doch die Wahl fiel auf Geyer, weil der Mann im Nachbarort seine Kindheit verbrachte. Er kennt die Gegend, den Blick auf die Berge, den Klang des Waldes, die Eigenart der Leute. Blutner sagt: „Wer weiß, ob die Nachbarorte schon wissen, dass Geyer ans Internet soll. Und wenn, denkt auch keiner, dass deswegen im Ort jetzt die Sonne aufgeht.“ Blutners Firma steht auf einer Wiese, da, wo Geyer aufhört und der Wald beginnt. Hundert Meter weiter grasen Kühe. „Wenn sie überlegen, wie Geräusche gut klingen, müssen sie ihre Ohren frei haben.“ Da Blutner mitten in der Natur sitzt, ist er bestens technisch ausgerüstet. Seit Jahren nutzt er das Internet. „Oder haben sie schon mal Töne per Fax geschickt?“ Jetzt unterbreitete ihm die Stadt ihr Internetangebot. Per Breitbandkabel sollen seine Daten künftig übertragen werden, mit einer hundertfach schnelleren Geschwindigkeit als durch die bisherigen Telefonleitungen. Ein Angebot, das Blutner reizt, weil er vielleicht in ein paar Jahren „Akustik-Konferenzen mit seinen Auftraggebern“ halten kann.

Ein Angebot, das Unternehmer reizt. Aber in Geyer? Der Ort hat eine Strumpffabrik, eine Wäschefabrik und 15 Prozent Arbeitslosigkeit.

Erst Bergbau, dann Exportware

„Geyer ist tot, mit und ohne Internet“, sagen zwei junge Männer, die im „Rathauskeller“, sitzen. „Hier kannst du nur schlafen oder vor der Glotze hocken.“ Heute trinken sie einen. 17 ist der eine, 23 Jahre der andere. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Geyer sei einfach zu klein dafür. Was passiert denn hier so? Der eine überlegt: „Kürzlich ist die Sparkasse von der einen Straßenseite auf die andere umgezogen.“ Seit ein paar Monaten ist die Videothek dicht, das Kino ist es seit Jahren, die Bergschächte sind es seit einer Ewigkeit. „Früher“, sagt der eine „war’s geil hier.“ So hat er es zumindest erzählt bekommen.

Einst war Geyer eine Bergbaustadt, reich an Zinn und Silber. Später kam die Textilindustrie hinzu. In DDR-Zeiten produzierte der Ort Exportware: Socken für die Bundeswehr, in die Sowjetunion lieferte man das Zubehör für die Kalaschnikow. Geyer war eine Kleinstadt, wie es sie allerorts gab in der DDR, nur der Empfang von Westfernsehen war im Erzgebirge etwas schwächer. Das änderte sich, als in den 80er-Jahren die DDR-Staatsführung entsprechende Auflagen lockerte. Kollektiv finanzierten sich die Leute im Ort ein Breitbandkabelnetz, kollektiv konnten sie nunmehr „nach drüben“ sehen.

Heute ist das Kabelnetz ein „Kapital“ wie es im sächsischen Landwirtschaftsministerium heißt. War es früher eine Verbindung „in eine andere Welt, ist es heute eine in die ganze Welt“, meint Minister Steffen Flath. Mittels eines Pilotprojekts will Sachsen nun erstmals testen, wie das Medium auf dem Lande ankommt. Die Wahl fiel auf Geyer, weil es beste technische Voraussetzungen hat. Flath ist euphorisch. Er denkt, dass in ein paar Jahren der halbe Ort Anschlüsse haben wird. Schließlich sei das Internet ein „Glücksfall“, der dem ländlichen Raum „neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt“ bringe, sagt Flath.

Visionen. Versprechungen. Konkret sind bisher nur die Kosten. So sollen die Einwohner von Geyer eine monatliche Gebühr für das Internet zahlen. Auch die Testphase gibt es nicht zum Nulltarif. „Wir wollen ausschließen“, sagt Bürgermeister Joachim Weiß, „dass die Leute nach dem Projekt die Anschlüsse wieder abbestellen.“ Doch wer zahlt, muss den Visionen trauen. In Geyer ist man skeptisch. Angaben der Kommune zufolge sind vor allem die Unternehmen vor Ort und die Schule dem Angebot aufgeschlossen. Anträge auf Privatanschlüsse gibt es bisher nur wenige. Warum auch für etwas Geld ausgeben, von dem niemand Wunder erwartet?

Mit Widerständlern hat das Landwirtschaftsministerium gerechnet. Ein zusätzliches Unterhaltungsangebot soll sie umstimmen, den Fernseher in Zukunft auch fürs Internet zu nutzen. So wird derzeit mit einem Tochterunternehmen der Bertelsmann AG verhandelt. Es soll Filmpakete anbieten, die per Internet bestellt werden. Eine monatliche Gebühr fällt auch da an. „Bei älteren Leuten“, erklärt Minister Flath, „müssen Sie auf ein vertrautes Medium setzen, mit dem sie durch Unterhaltung lernen, was man mit der neuen Technik alles machen kann.“

Dass gerade Geyer ans Internet kommen soll, hält Pfarrer und Stadtrat Gerd Schneider für „übertrieben“. Grund ist die Altersstruktur der Stadt. Knapp die Hälfte der Einwohner ist über 50 Jahre. „Geyer als Senioren-Ort auszubauen, hätte mehr Sinn“, sagt der 56-Jährige. Doch nun läuft das Internetprojekt bereits und keiner soll ausgeschlossen bleiben. Auch die Kirche nicht. So hat man auch Schneider unlängst einen Anschluss angeboten, fürs kirchliche Seniorenheim. Der Pfarrer lehnte ab: „Diese Leute brauchen eine andere Kommunikation als den Bildschirm.“

Zur Wende war Geyer noch jünger. Damals wie heute machten Visionen die Runde, jedesmal hat sie die Realität überholt. So sollte Geyer Urlaubsort werden. Am nahe gelegenen Stausee entstand mit Fördermitteln ein Erlebnisbad, vielfach besucht von Leuten aus der Umgebung. „Stunden-Touristen“, werden sie in Geyer genannt, „die ihre Bemme mitbringen und womöglich noch ihre Colabüchsen liegen lassen“. Viel hat der Ort nicht davon. Das soll sich mit einem geplanten Feriendorf am Waldesrand von Geyer ändern. „Seinen Jahresurlaub wird hier trotzdem keiner verbringen“, sagt Pfarrer Schneider, „schließlich können wir nicht die Alpen bieten.“ Weil so mancher Traum nicht wahr wurde, verließ inzwischen knapp ein Fünftel der Leute den Ort.

Nur wenig Internetfreunde

Die beiden jungen Leute im „Rathauskeller“ nippen am zweiten Bier. Wenn Geyer tot ist, warum seid ihr dann noch hier? Der eine sagt: „Ich steck noch in der Ausbildung.“ Der andere, arbeitslos, wirkt verlegen bei seiner Antwort. „Sie müssten zur Weihnachtszeit hier sein, wenn sich der Schnee häuft und in jedem Fenster ein Schwibbogen steht. Wissen sie überhaupt, wie gemütlich es hier sein kann?“ Die Liebeserklärung wird gegen 23.15 Uhr vom Handy unterbrochen. Das kommt den Jungs gerade recht. Es ist ein kurzes Telefonat. Der Jüngere sagt: „Ja Mutter, ich komm gleich.“

Jeden Dienstag hält sich Matthias Dietzsch den Abend frei. Dann geht er Schnitzen, auch wenn er tagsüber nichts anderes macht. Er ist Holzbildhauer. Doch Dienstag ist Vereinsabend im „Schnitzerheim“. An einem langgezogenen Arbeitstisch sitzen 20 Männer. Sie schnitzen. Trinken Bier. Erzählen Witze – zum dritten, zum vierten, zum x-ten Mal. Matthias Dietzsch ist seit 22 Jahren Holzbildhauer. Ein Beruf, „mit dem ich etwas schaffe, was mich überleben wird“, sagt der 49-Jährige. Der Mann hat einen Laden, eine Werkstatt und klare Regeln: Ein Arbeitstag muss 6.30 Uhr beginnen, „sonst wird nichts aus ihm“. Ein Fernseher „vergeudet nur meine Zeit, deshalb besitze ich keinen“. Die Männerrunde kichert. Der Dietzsch hat keinen Fernseher. Als ob das noch ein Geheimnis wäre. Einer ruft: „Aber nicht dass sie denken, dass es in Geyer keine Fernseher gibt. Wir sind hier schon so weit, dass wir ans Internet sollen.“ Die Runde kichert wieder. „Wieviel soll das eigentlich kosten?“, fragt einer. 50 Mark pro Monat sind als Gebühr im Gespräch. „Das ist in unserer Region sehr hoch gegriffen, da werden sich schwer Freunde finden“, sagt ein anderer.

Dietzsch war schlauer. Seit zwei Monaten besitzt er eine Homepage. Ein Touristikunternehmen aus Chemnitz hat ihn an der Haustür geworben. Kostenlose Präsentation, hieß es, Dietzsch sagte zu. Ein Schnäppchen, und bringen muss es ja nichts. Der Unternehmer hat Aufträge zur Genüge. Auf das Internet-angebot von Geyer wartet er noch. Er schmunzelt. Er stellt sich gerade vor, wie er erklärt, dass er keinen Fernseher hat. „Die sagen bestimmt, zu solch einem Hinterwäldler kommen wir erst gar nicht mehr. Damit hat sich das Problem von selbst geklärt.“

Es war einmal eine Kleinstadt im Erzgebirge. Im Jahr 2000 bekam sie Internet. Damals sprach der Minister: In fünf Jahren gibt es hier ein paar mehr Arbeitsplätze. Das sagte der Bürgermeister auch. Der Holzbildhauer wollte sich trotzdem keinen Fernseher kaufen. Und die Jungs im „Rathauskeller“ waren beschäftigt. Sie langweilten sich.

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