Knapp vorbei an Olympia

Die Wahlberlinerin Wiebke Nulle ist die weltbeste Bogenschützin. Doch bei der Qualifikation für die Olympischen Spiele schoss sie daneben. Statt nach Sydney fährt sie nun nach Irland – in den Urlaub

von TANJA BUSSE

Es sind die Augen. Dunkelbraun mit geschwungenen Wimpern. Die gucken freundlich und aufmerksam, zuerst in die Ferne, dann schräg nach unten auf den Pfeil und wieder hoch zur Zielscheibe. Bis kurz vor dem Schuss. Dann ziehen sie sich plötzlich zusammen, werden kalt und starr, wie optisches Feingerät, fixieren einen kleinen gelben Punkt in 70 Meter Entfernung. Den der Pfeil dann trifft.

Es sind die Augen der besten Bogenschützin der Welt. Die Wahlberlinerin Wiebke Nulle, 20 Jahre alt, ist Weltranglistenerste, hat beim World Cup in diesem Jahr und bei den Vorolympischen Spielen in Sydney im letzten Jahr jeweils den zweiten Platz belegt. Der Trainer und die Leuten vom Olympiastützpunkt haben ihr immer wieder gesagt, dass sie in Sydney Chancen auf eine Einzelmedaille habe.

Wenn in knapp vier Wochen die Olympischen Spiele beginnen, wird Wiebke Nulle mit ihren Eltern in Irland vor dem Fernseher sitzen. Die Eröffnungsfeier wird sie vielleicht noch aushalten. Doch wenn der erste Wettkampf der Bogenschützen zu sehen ist, wird sie den Fernseher ausstellen. Oder rausgehen. Und in einen wolkenverhangenen irischen Himmel gucken und sich nach Australien wünschen.

Die Olympiaqualifikation der Bogenschützen funktioniert wie die Trials in den USA. Ein Wettkampf entscheidet. Das war das Turnier in Welzheim bei Stuttgart, zu dem Wiebke Nulle als Zweite angereist ist. „Es hat angefangen zu regnen, meine Finger wurden nass, und auf einmal habe ich ganz viele Nullen geschossen“, erinnert sie sich. Das Ergebnis war ein fünfter Platz. Jetzt fährt die alte Garde – Barbara Mensing (39), die Berlinerin Cornelia Phohl (29) und Sandra Sachse (30) – nach Sydney, die jungen Favoritinnen Britta Bühren und Wiebke Nulle aber müssen zu Hause bleiben.

Jetzt setzt sie auf 2004

„Da ist eine Welt zusammengebrochen“, sagt Nulle. „Auf der Rückfahrt nach Berlin saß ich mit Conny im Auto, sie wollte vor mir nicht richtig zeigen, wie glücklich sie war, dass sie es geschafft hatte und ich ...“ Wenn die 20-Jährige über ihre Niederlage redet, beginnen die Augen feucht zu schimmern. Doch sie lächelt tapfer. Warum es nicht geklappt hat? „Ich will nicht die Schuld auf das Material schieben, und im Training schieße ich auch im Regen.“ Sie weiß es nicht.

Jetzt kann Nulle nur auf das nächste Mal hoffen. 2004. Sie ist ja noch jung – und versucht, positiv zu denken. Die Eltern, die Freunde, der Trainer: alle haben sie getröstet. Wirklich geändert hat das zwar nichts, aber sie will weitertrainieren. Für die Deutschen Meisterschaften.

Es war nicht Robin Hood, der sie zum Bogenschießen gebracht hat, es war eine Schulklasse in Schottland. „Ich hab das gesehen und fand das total spannend. Ich habe meine Eltern den ganzen Urlaub über genervt, dass ich das auch mal machen will“, erzählt sie. Wieder zu Hause in Wilhelmshaven, ging der Vater mit ihr zum Schützenverein. Da war sie acht Jahre alt und hatte ihren Sport gefunden. Vorher hatte sie sich in Leichtathletik versucht, „wie jeder das mal durchmacht“, und im Schwimmen, aber nie für lange Zeit. Beim Bogenschießen hat sie durchgehalten. „Ich war überhaupt kein Spitzentalent. Es hat vier Jahre lang gedauert, bis ich ein bisschen was getroffen habe.“

Was ist so faszinierend am Schießen, dass ein kleines Mädchen neben alten Männern Tag für Tag auf dem Übungsplatz steht und immer wieder, stundenlang, die gleiche Bewegung übt? „Ich bin immer noch auf der Suche nach dem perfekten Schuss. Wenn man schießt und man weiß schon, bevor der Pfeil hinten auf der Scheibe aufkommt, das war jetzt eine Zehn, und man guckt durchs Fernrohr und da steckt er, das ist einfach ein schönes Gefühl.“

Der perfekte Schuss

Diese Suche hat Nulle mit so viel Eifer betrieben, dass die Lehrer am Gymnasium in Wilhelmshaven eine Entscheidung zwischen Schule und Bogenschießen verlangten. „Ich wollte mich aber nicht entscheiden, weil ich den Sport zu sehr geliebt habe und auf die Schule auch nicht verzichten wollte“, sagt sie. Schließlich kann man mit Bogenschießen kein Geld verdienen. Doch dann hat der Bundestrainer sie nach Berlin geholt mit dem Ziel, 2004 bei den Olympischen Spielen zu starten. Doch das „optimale Training“ im Sportforum Hohenschönhausen hat so schnell angeschlagen, dass sie nach einem Jahr schon olympiareif war. Eigentlich.

Die Sportförderungseinrichtungen der ehemaligen DDR waren für Wiebke Nulle eine Erfüllung. Im Sportinternat hat sie zum ersten Mal Freunde gefunden, die Verständnis dafür hatten, wenn sie monatelang nichts als Training im Kopf hat. „Beim Mittagessen trifft man die Leichtathleten und die Schwimmer, das ist ein tolles Miteinander.“ Die Unterrichtsstunden der 12. und 13. Klasse hat sie auf drei Jahre verteilt, im Stundenplan standen achtzehn Stunden Schulunterricht und siebzehn Stunden Training pro Woche.

So hat sie in diesem Sommer das Abitur geschafft, trotz Turnieren in Europa, Amerika und Australien. Für die nächsten beiden Jahre hat sie sich in der Sportkompanie der Bundeswehr verpflichtet. Sechs Wochen Grundausbildung, und dann „habe ich mit der Bundeswehr nichts mehr zu tun“. Zwei Jahre Zeit nur fürs Training. Das Ziel ist klar. 2004.