Iason lebt hier nicht mehr

Markus Wolfgang Konradin Leiner, genannt Qrt, war Philosoph, Theorieproduzent und Heldenforscher. Vor fünf Jahren starb er an einer Überdosis Heroin und hinterließ zehn Plastiktüten mit Manuskripten. Ein Epilog auf das Westberlin der 80er-Jahre

von KOLJA MENSING

„Mythen sind mediale Schauplätze. Ihre Protagonisten sind meistens Medienarbeiter, die Berufe wie Zauberer, Seher oder König bekleiden.“ (Qrt)

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Frank Wulf sitzt an einem der Tische vor einer Tapas-Bar in der Dircksenstraße in Berlin-Mitte. Im Hinterhof ist eine Galerie untergebracht, daneben eine Niederlassung der „Boston Consulting Group“. Im zweiten Hinterhof, etwas versteckt, findet man die Büros der Internetfirma MPT New Media, für die Frank Wulf arbeitet.

Frank Wulf ist 37 Jahre alt und arbeitet für MPT New Media. Er trägt eine dunkle Anzughose und einen dunklen Pullover, vor ihm auf dem Tisch, neben dem Weinglas, liegt ein dünnes schwarzes Merve-Bändchen mit Texten des 1996 verstorbenen Berliner Philosophen Qrt: „Schlachtfelder der elektronischen Wüste“. Der Untertitel lautet „Schwarzkopf, Schwarzenegger, Black Magic Johnson“, es geht um die Figur des Helden im Medienzeitalter.

Die Texte sind im Jargon der französischen Postmoderne geschrieben. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie ein Cut-up aus Baudrillard und Virilio, Lacan und Deleuze. Die angestrebte Rekonstruktion des Medienhelden aus dem Geist des antiken Mythos löst sich schon auf den ersten Seiten in verschachtelte Strukturdiagramme und emphatische Statements auf. Frank Wulf war der engste Freund von Qrt (sprich: „Kurt“), jetzt ist er einer der beiden Herausgeber des Bandes.

Anfang der Achtziger kamen Qrt und Frank Wulf wie viele andere nach Westberlin. Sie studierten Philosophie an der FU, teilten sich eine Zeit lang eine Wohnung, und gingen in Kneipen, die „Risiko“, „Pornofinger“ oder „Ex ’n’ Pop“ hießen. Frank Wulf hatte damals blond gefärbtes Haar und trug Kajalstift, Qrt trat als später Punk auf. An der FU wurden in „autonomen Seminaren“ Zombiefilme von George A. Romero analysiert, man nahm Drogen, Nick Cave war in der Stadt, jeder machte irgendwie Musik, schrieb Texte oder malte, die Kneipen waren neonhell und die Abbruchhäuser, in denen man lebte, düster. Das war Westberlin.

Anfang der Neunziger macht Frank Wulf eine Fortbildung bei Siemens, 1996 gründet er mit anderen die „MPT New Media“. Womit sich die Firma am Grenzbereich zwischen Webdesign und Marketing genau beschäftigt, ist allerdings schwer zu verstehen. Der Jargon der IT-Branche ist genau wie das Vokabular der Postmoderne, in dem Frank Wulf und Qrt ihre Seminararbeiten schrieben, eine Sprache für Eingeweihte: „Du willst sicher erst deine Notizen scannen“, sagt Frank Wulf, „wir können dann ja noch einen Detailtermin ausmachen.“

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„Die Theorie des Heroischen ist die Interpretation des Mythos am Punkt des Auskristallisierens seiner Wahrheit . . . Der Held steht am Rand und im Wendepunkt jedes medialen Paradigmenwechsels.“ (Qrt)

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1965 wurde Qrt als Markus Wolfgang Konradin Leiner in Konstanz geboren. Er stammt aus einer wohlhabenden Akademikerfamilie. Der Vater, ein Philosoph, stirbt früh. Als Qrt mit dem Studium beginnt, hat er bereits viel gelesen. Innerhalb kürzester Zeit arbeitet er sich dann in Berlin durch den neuen Kanon der französischen Postmoderne. Er studiert Philosophie und Linguistik, schreibt, geht feiern, hat immer neue Freundinnen, liest Burroughs, kopiert Burroughs, nimmt Heroin – und entwickelt eine Art intellektuelles Guerillatum. Qrt trägt eine Combat-Hose, ein zerrissenes Unterhemd und eine Lederjacke, er beschimpft in den Seminaren Dozenten und Mitstudenten, fängt in Kneipen Streits an und sprengt mit seinen manischen Auftritten Partys.

„Wenn ich überhaupt etwas an den Achtzigerjahren vermisse, dann sind es die Momente einer klaren Differenzierung zwischen dem, was gut ist und was Scheiße ist“, sagt Erik Hopf. Er sitzt auf der Terrasse des besseren italienischen Restaurants, das im Erdgeschoss des taz-Gebäudes untergebracht ist, und isst Pasta. Erik Hopf, dem heute eine Werbeagentur gehört, kam 1986 zum Studieren aus Basel nach Berlin, als Sohn einer Schweizer Industriellenfamilie. Er ist mit Qrt befreundet, geht in die gleichen Kneipen und interessiert sich an der Universität für die gleichen Themen. 1991 gründet er mit einem Partner eine Marketing-Agentur. Statt des Geheimwissens der Computerfreaks brachten Leute wie Erik Hopf akademische Werkzeuge mit, um die Produktwerbung an den Zeitgeist anzuschließen: Zigarettenverkaufen mit Baudrillard.

Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger ist die große Zeit der Trendforscher. Auch Qrt erstellt jetzt Szenegutachten für Reemtsma im Stil soziologischer Hauptseminararbeiten. „Der Gedanke war“, sagt Erik Hopf, „dass man etwas Cooles macht und damit auch noch Geld verdient.“ Später arbeitete Qrt dann eine Zeitlang mit regelmäßigem Einkommen für Erik Hopf, änderte allerdings seinen Lebensstil – viel Ausgehen, viele Drogen – in keiner Weise, und die Kunden waren beeindruckt, wenn Qrt bei einem Termin einfach einschlief. Trotzdem blieb er nicht lange bei Erik Hopf: „Die Arbeit in der Agentur wurde sukzessive leistungsorientierter.“ Qrt war danach für ein Jahr lang Redakteur beim Stadtmagazin 030: „Mehr Bürgerlichkeit war nicht drin.“

Erik Hopfs Agentur ist heute zunehmend im Bereich Unternehmensberatung tätig. Die Businesswelt der späten 90er findet er okay, sieht darin eher eine Art After Hour Party der Achtziger: „Es ist eine Welt, in der eben auch Musik und Drogen zugelassen sind . . .“ Außerdem, erklärt er lächelnd, habe er inzwischen festgestellt, wie viel großbürgerliches Erbe in ihm steckt.

Erik Hopf ist heute 36 Jahre alt, er lebt mit seiner Freundin zusammen und hat eine zweieinhalbjährige Tochter, die Luna heißt. „Mich würde es interessieren“, sagt er, „ob man Qrt nicht als Entdeckung hypen könnte . . .“

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„Das Kino beschwört einen Dämon, mit dem kein soziales System so richtig fertig wird, die um sich greifende, alles verschlingende Gewalt, deren Potential jeder in sich trägt, deren Sog jeden erfaßt.“ (Qrt)

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Es ist halb zehn am Abend. Im Sputnik Südstern, einem Kino in einem Kreuzberger Dachgeschoss, laufen die Filme „Sweet and Lowdown“ und „Zug des Lebens“. Die Kneipe, die seit einiger Zeit zum Kino gehört, ist leer, vom Balkon aus kann man in die Räume des Fitnessstudios im Hof gegenüber sehen. In einem anderen Fenster sieht man Paare, die tanzen. „Im Sputnik habe ich mit Qrt die ganzen Splatterfilme gesehen“, sagt Nele Kleyer-Zey, die für ein Jahr lang Qrts Freundin war.

Qrt und Nele haben sich 1986 kennen gelernt. Nele Kleyer-Zey, die damals Theater spielte und „viel in der Szene unterwegs war“, war ebenfalls aus der westdeutschen Provinz nach Berlin gekommen, aus Münster. Gleich zu ihrem zweiten Date tauchte Qrt nicht auf – er hatte sich bei einem Autounfall das Bein gebrochen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zog er dann gleich bei ihr ein, mit ein paar Plastiktüten, in denen er seine nicht sehr umfangreichen Besitztümer untergebracht hatte – hauptsächlich Bücher: „Ich erinnere mich, wie er damals mit seinem Gipsbein auf meinem Bett lag und Baudrillard las.“

Nele Kleyer-Zey trägt eine Jeans und ein dunkles T-Shirt. Sie ist 34, verheiratet und hat eine sechsjährige Tochter. Sie promoviert heute im Fach Pädagogik, von der Geschäftswelt, in der Erik, Frank oder andere Freunde und Bekannte von früher leben, ist sie weit entfernt. Wenn sie zufällig einen von ihnen trifft, sagt sie, erschrickt sie.

Sie hat eine lilafarbene Mappe mit ins Sputnik gebracht, eine Erinnerungsmappe mit Fotos und Briefen von Qrt, zusammen mit einer Kassette, die er für sie aufgenommen hat: „the soft side of life“, steht auf der einen Seite, „the hard side of life“ auf der anderen, auf einem der Fotos sitzt Qrt mit nacktem Oberkörper auf einem Bett. Nele Kleyer-Zey erzählt von der Zeit mit Qrt wie von einer großen Liebe: „Qrt war damals sehr ehrlich.“

Es gab Konkurrenz, nicht nur durch andere Frauen. Die Universität, Qrts Texte, die Bücher gehörten in eine Jungswelt, in der er mit Frank, Erik und anderen lebte, und dann gab es noch das Heroin. Von den Gerüchten, Qrt habe eine Liste über die Menschen geführt, die er angefixt haben soll, erzählt Nele nicht – nur von einer Freundin Qrts, mit der er in Konstanz zum ersten Mal Heroin genommen hatte und die ihn ab und an in Berlin besuchte.

Es ist Mitternacht. Nele nimmt einen Brief, den Qrt geschrieben hat, aus der lila Mappe. Die Schrift ist weich und rund, sie sieht aus wie eine Mädchenschrift: „Er hat auch in jedes seiner Bücher so ein Ornament mit seinem Namen darin gemalt“, sagt Nele: „Es lag eine Ordnung in allem, was er tat.“ Auch die Tattoos, die zu seinem Tod seinen halben Körper bedeckten, hat Qrt selbst entworfen. Doch das war später, nach Nele: „Als ich ihn kann, war er noch ganz rein.“

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„Der Star muß vor allem eine telegene Oberfläche besitzen, sein gesamter Körper ist reflektierende Haut.“ (Qrt)

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Qrt war ein Selbstdarsteller. Er entblößte begeistert seinen Oberkörper, um seine Tattoos zu zeigen, im Fitnessstudio arbeitete er an seinem martialischen Äußeren. Und er schrieb nicht nur über die Rolle des „Helden im Zeitalter der Simulation“, sondern nahm auch regelmäßig als Gast an Talkshows teil – wenn es um Tattoos ging, um Piercing oder SM/Sex. „Qrt war sich für keinen Einsatz zu schade“, sagt Tom Lamberty über Qrt, den Szenestar, Medienarbeiter und Bildschirmsoldaten.

Tom Lamberty steht vor einer Kamera. Er trägt ein schwarzes Sakko und einen Rollkragenpullover. Zusammen mit Frank Wulf hat er die Merve-Bände mit Qrts Texten herausgegeben, und als der zweite Band im vergangenen Jahr auf der Buchmesse vorgestellt wurde, hat Alexander Kluge Tom Lamberty für seine „Zehn vor elf“-Reihe interviewt. „Was steht da drin?“, fragt Kluge und zeigt auf die „Schlachtfelder der elektronischen Wüste“, und Tom Lamberty erklärte mit einfachen Worten, wie Qrt „die Helden des griechischen Mythos als Medienspezialisten deutet“ – und warum Qrt wohl eher Theorieproduzent als Theoretiker zu nennen wäre.

Qrt, der Theorieproduzent, war in den 80ern in Westberlin sicherlich besser aufgehoben als in München oder Köln, die damals zu Zentren der Medientheorie wurden. Qrt war von solchen akademischen Strategien unberührt, denken war für ihn im wahrsten Sinne des Wortes körperliche Arbeit. Die Bemerkung Baudrillards über das Tätowieren – es mache „aus dem Körper das, was er ist: ein Material symbolischen Tauschs“ – zum Beispiel nahm Qrt ernst: In seinem Testament verfügte er, dass seine Haut nach seinem Tode aufbewahrt werden sollte. Das Testament unterschrieb er mit seinem eigenen Blut, die Haut liegt heute in Konstanz, im Haus seiner Mutter.

Auch Tom Lamberty hat, wie Erik Hopf und Frank Wulf mit Qrt in den 80ern in Berlin studiert, und wie die beiden anderen ist er inzwischen in einen Job hineingerutscht, der mit seinem Studium nur noch wenig zu tun hat. Er arbeitet bei Siemens in München im IT-Bereich und ist viel im Ausland unterwegs. Nebenberuflich verwaltet er mit Frank Wulf Qrts theoretisches Erbe. Im Herbst erscheint der dritte, umfangreichere Qrt-Band unter dem Titel „Drachensaat. Der Weg zum nihilistischen Helden“: eine Theoriereportage, die von der Odyssee über die mittelalterlichen Fürsten bis hin zu Oswald Spengler und Michel Foucault reicht.

Der Titel ist der griechischen Argonautensage entnommen. Der Held Iason muss, um das Goldene Vlies wieder nach Griechenland bringen zu können, zunächst mit Feuer speienden Stieren, die Hufe aus Bronze haben, ein Feld pflügen und dann die Zähne eines Drachen aussäen – die Drachensaat, der in der Sage Krieger entspringen. Iason, schreibt Qrt, ist ein früher General Schwarzkopf, ein Medienarbeiter und Medienkrieger.

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„Das Feld des Ares ist offenbar ein Schlachtfeld, das durch Informationstechnologien, hier die Bronzestiere, transparent gemacht werden soll . . . Iason soll gewissermaßen eine Kriegsreportage schreiben (das Pflügen ist die Schrift des Ackers).“ (Qrt)

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Qrts Texte sind Fragmente, und sein Nachlass enthält noch zehn Plastiktüten voller Manuskripte, die bisher nicht ausgewertet wurden. Darunter befinden sich auch ein umfangreicher Comic und verschiedene Romane, die auf ihre Veröffentlichung warten: „Aber das hängt vom Markt ab“, sagt Frank Wulf bei einem zweiten Treffen, drei Monate nach dem ersten Gespräch, in einer kleinen Kneipe am Rosenthaler Platz. Seine Firma, die jetzt „Plenum New Media“ heißt, ist umgezogen, in größere Räumlichkeiten an der Torstraße. In Kürze wird sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Frank Wulf betreut jetzt als „Managing Director“ den Bereich „Technology/Development“.

Am Wochenende wird Tom Lamberty auf einem Literaturfestival in der Schweiz aus Qrts Texten lesen. Frank Wulf überlegt, ebenfalls dorthin zu fahren – aber da ist noch ein Termin in Hamburg und einiges, das in Berlin organisiert werden muss. Arbeit eben. „Es bleibt wenig Zeit für anderes“, sagt Frank Wulf. „Aber das ist vielleicht auch nicht so interessant. Willst du nicht noch was zu Qrt fragen?“

Vom Tod seines Freundes hatte Frank Wulf schon beim ersten Treffen erzählt. Qrt starb an einer Überdosis Heroin, ob es ein Unfall war oder Selbstmord, weiß man nicht. Bei der Beerdigung in Konstanz trafen sich noch einmal viele von Qrts Freunden und Bekannten, die Überlebenden der Argonautenfahrt durch die 80er-Jahre.

Iason, dem griechischen Helden, war geweissagt worden, dass er eines Tages mit seinem Schiff, der Argo, gemeinsam untergehen sollte. Markus Wolfgang Konradin Leiner starb vor vier Jahren, am 16. Oktober 1996. Westberlin, die Stadt der Helden, gibt es längst nicht mehr.

Texte von Qrt sind bisher in zwei Bänden erschienen: „Schlachtfelder der elektronischen Wüste. Schwarzkopf, Schwarzenegger, Black Magic Johnson“ (Merve, Berlin 1999, 128 Seiten, 18 DM) und „Tekknologic, Tekknowledge, Tekgnosis. Ein Theoriemix“ (Merve, Berlin 1999, 143 Seiten, 19 DM).Der Band „Drachensaat. Der Weg zum nihilistischen Helden“ erscheint im September dieses Jahres (Merve, Berlin 2000, 600 Seiten, 68 DM).