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„So denkt jetzt die Sprache für jeden“

Die Schrift als Kolonist des Denkens und Motor sozialer Desintegration: Zu Friedrich Nietzsches wegweisenden Erkenntnissen zählt, gesellschaftliches und individuelles Selbstverständnis als Oberflächenphänomen der medialen Infrastruktur zu begreifen

von CHRISTOF KALB

Wenn es Friedrich Nietzsche nicht schon gegeben hätte, schreibt einer seiner Interpreten, dann müssten wir ihn erfinden. Nicht allein, weil wir ihm eine Bereicherung der philosophischen Traditionen verdanken; viel mehr noch, weil in den 100 Jahren, die seit seinem Tod verstrichen sind, seine zeitkritischen Überlegungen beinahe nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Nietzsches Schriften bieten eine klare und prägende Sprache, in der wir unser Unbehagen an der Kultur formulieren können. Nietzsche ist keineswegs in den Olymp der Klassiker aufgerückt. Er ist unser Zeitgenosse geblieben, denn sein intellektueller Anspruch bestand darin, das philosophische Erbe unter den Bedingungen einer Moderne anzutreten, die noch wir mit ihm teilen.

Die philosophisch fundierte Zeitdiagnose weist Nietzsche als kritischen Begleiter kultureller Entwicklungen aus. Ebenso sehr wie die traditionellen philosophischen Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, der moralischen Begründung des Handelns oder den Leistungen der Kunst beschäftigen ihn die Folgen eines gesellschaftlichen Strukturwandels, der das Selbstverständnis von Individuen und Gemeinschaften radikal in Frage stellt. Den Befund teilt Nietzsche mit einer Vielzahl von Philosophen des 19. Jahrhunderts: In dem Maße, wie die normativen Bindungskräfte der Religion nachlassen, verliert die Gesellschaft die Fähigkeit, individuelle Handlungen im Bewusstsein allgemeiner Handlungsziele zu verschränken. In der Art jedoch, wie Nietzsche den Verlust gesellschaftlicher Einheit thematisiert, setzt er innovative Akzente: Er verortet den Befund sozialer Desintegration in einer mediengeschichtlichen Großperspektive, die von der griechischen Antike bis zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts reicht.

Auf der Folie einer weitläufigen sprachhistorischen Betrachtung deutet Nietzsche den modernen Zustand der Sprache als Phänomen des Verfalls: Die Sprache ist in ein Stadium der Krankheit und Erschöpfung eingetreten. War die Sprache ursprünglich zum Ausdruck individueller Gefühle befähigt, so hat sie sich unter den Bedingungen der Schrift den Sprechern entfremdet, sodass, wie Nietzsches Gewährsmann Richard Wagner meint, „sie nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen“.

Isolation des Rezipienten

Die konventionalisierte Schriftsprache, durch die Erfindung des Buchdrucks zum kulturellen Leit- und Massenmedium avanciert, hat eine Verbindlichkeit, der gegenüber individuelle Initiativen der affektiven Kommunikation, der Sinndeutung und Welterzeugung wenig aussichtsreich erscheinen. Wenn die Schrift – und eben nun nicht mehr die Musik oder das Theater, wie in der griechischen Antike – die Formen der Vergesellschaftung vorgibt, dann bleibt die sprachliche Abstraktion von je singulären Empfindungen nicht aus. Die Tendenz des Schriftmediums ist die Herstellung eines kulturell neuen, totalen Zustands von sozialer Einheit – um den Preis einer medialen Entsorgung der in ihren leibhaften Bedürfnissen individuierten Menschen.

Unter den Bedingungen der Schrift, so Nietzsches Beobachtung, wird die Desintegration zur Signatur der Gesellschaft: Im Zeichen der Schrift trennen sich die Medien (gesprochene Sprache und Schrift), die Sinne (das Hören vom Sehen), die Künste (die Musik und die Literatur), die symbolischen Weltzugänge (Kunst und Wissenschaft), die Modalitäten des Subjektiven (das Leibliche und das Geistige), schließlich die Individuen einer Gesellschaft. Die medientheoretischen Einsichten, die Nietzsche schon in der Untersuchung der Literalisierung im antiken Griechenland gewonnen hat, will er auch für die Kritik der modernen Schriftkultur produktiv machen. Er hat dabei Befunde vor Augen, die in den Theorien der Kommunikation des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll bestätigt werden, etwa die Zerstörung der literarischen Öffentlichkeit durch die Isolation des Rezipienten in der stummen Lektüre, den Verlust der Sinnlichkeit und die typografisch induzierte „Intellektualisierung“ des Leseverhaltens, die Kommerzialisierung der Kunstproduktion und die konsumorientierte Literaturrezeption.

All diese Phänomene weisen darauf hin, dass die medientechnische Entwicklung mit der Erfindung des Buchdrucks eine riskante Schwelle erreicht. Die Integration des Sozialen ist ernsthaft in Gefahr, sobald das anonyme System schriftsprachlicher Kommunikation das wortsprachliche Vermittlungsmedium kolonialisiert. Unter den Bedingungen der Schrift wird Verständigung dem unmittelbaren Kommunikationszusammenhang der Individuen entzogen und umgekehrt den voneinander isolierten Subjekten in verfremdeter medialer Gestalt zugleich ,vorgeschrieben‘. In schriftlicher Form wandelt sich Sprache zu einer medientechnisch produzierten Außenwelt, in der sich die vereinzelten Subjekte weder wieder erkennen noch als Individuen aufeinander beziehen können.

Die Perversion wahrer Kommunikation weiß Nietzsche besonders nachdrücklich deutlich zu machen, indem er auf die Umkehrung des Verhältnisses von Individuum und Sprache hinweist. Soll die Sprache eigentlich Mittel im Dienst individueller Verständigung sein, „so denkt jetzt die Sprache für jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualität in diesem ungeheuren Zwang“. Vertrauen die Individuen dem Medium der Schrift die Versuche der Kommunikation an, „so flüstert ihnen die Convention Etwas in's Ohr, worüber sie vergessen, was sie eigentlich sagen wollten; wollen sie sich mit einander verständigen, so ist ihr Verstand wie durch Zaubersprüche gelähmt, so dass sie Glück nennen, was ihr Unglück ist, und sich zum eigenen Unsegen noch recht geflissentlich mit einander verbinden“.

Etappen des Prozesses

Nietzsches Zeitdiagnose macht uns sensibel für die Folgen, die sich aus der gesellschaftlichen Umstellung von Oralität auf Literalität ergeben. Die Konsequenzen des Medienwechsels betreffen freilich nicht allein die Gesellschaft als Ganze, sondern ebenso die im Medium der Schriftkultur vergesellschafteten Individuen. Verdankt Nietzsche seine medientheoretischen und -historischen Einsichten zunächst noch ganz Richard Wagner, so stellt er seine Überlegungen schon bald in einen neuen Reflexionshorizont, den er sich unter dem Einfluss der Sprachtheorie Gustav Gerbers erarbeitet. Mit Gerber deutet Nietzsche nun die Medien des Tons, der artikulierten Sprache und der Schrift als Etappen eines Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf Subjektivität sich nur unter der Bedingung bilden kann, dass sie den individuell-leiblichen Grund ihrer Existenz vom sprachlich ausdifferenzierten Selbstbewusstsein abspaltet.

In einer solchen sprach- und medientheoretischen Überlegung ist das Motiv für Nietzsches Vorbehalte gegenüber der Sprache des Allgemeinen angelegt – und für seine problematische Rettung des Individuellen. In der Tat nennt Nietzsche als Konsequenz unserer sprachlichen Verfassung, dass „jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ‚sich selbst zu kennen‘, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein ‚Durchschnittliches‘“. „Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende.“

Die Konsequenz einer solchen Überlegung scheint dann darin zu bestehen, individuelle Selbstgestaltung in einem vorsprachlichen und vorsozialen Horizont zu entwerfen. Genau die Passagen, die eine auf die Formen des Allgemeinen nicht mehr bezogene Selbsterfindung suggerieren, sind dann auch für postmoderne Theoretiker besonders attraktiv gewesen. Genau wie Nietzsche in seinen späteren Schriften entdramatisieren sie den Befund der sozialen Desintegration und begreifen Selbstbildung als ein prinzipiell einsames Geschehen, das aus allen Bezügen auf einen intersubjektiv geteilten Horizont von Werten und normativen Überzeugungen herausgelöst ist.

Ein solches Argument überzeugt auf den zweiten Blick viel weniger, als es zunächst scheint. Gewiss ist die Schrift unter den Bedingungen der „Gutenberg-Galaxis“ der quasi-transzendentale Bezugsrahmen für das Selbstverständnis sprachlich sozialisierter Subjekte. Andererseits fordern Nietzsches Überlegungen den Einwand heraus, dass Sprache auch in ihrer schriftlichen Form eine geschichtliche Einrichtung ist, die durch kommunikative Handlungen prinzipiell reformierbar oder sogar (wie das Beispiel künstlerischer Ausdrucksformen zeigt) revolutionierbar bleibt. Wie immer man die Auszeichnung eines vorsprachlich-unsozialen Individuums bewerten mag – „unzeitgemäß“ sind derartige Betrachtungen des späten Nietzsche keineswegs mehr. Im Gegenteil: Sie wenden den so hellsichtig diagnostizierten Befund einer Desintegration des Sozialen affirmativ und verleihen dem „Übermenschen“ als Modell amoralischer Lebensgestaltung eine zweifelhafte Legitimation.

Grenzen der Freiheit

Das Selbstverständnis von Gesellschaften und Individuen als den Oberflächeneffekt einer medialen Infrastruktur zu begreifen, dies gehört zu den richtungsweisenden Einsichten Nietzsches. Mit großem Recht weist er darauf hin, dass die mediale Infrastruktur der sozialen Lebenswelt individuelle Handlungs- und Sprachvollzüge modelliert. Weniger plausibel ist es freilich, daraus den individualistischen Schluss abzuleiten, im Allgemeinen erführe das Individuum allein die Grenzen seiner Freiheit. Die Verwirklichung von individueller Freiheit ist auf entgegenkommende Formen symbolischer Allgemeinheit angewiesen: Sie erst eröffnen den sprachlichen Horizont möglicher Selbstobjektivierungen. Hätte Nietzsche nicht vorschnell ein Kommunikationsmodell preisgegeben, in dem singuläre Deutungsinitiativen des Allgemeinen für Verständigung ebenso konstitutiv sind wie die jeder Individualität vorausliegenden allgemeinen Sprachordnungen, dann hätte er sich und der Nachwelt vielleicht die wirklich dunklen Pläne erspart. Jene Pläne, die im sprachlichen Medium problematisch gewordene Allgemeinheit in Blut und Boden, Geschlecht und Rasse, kurz: in einer biologischen Ordnung erneuern zu wollen.

Weil er den anderen nichts mehr zu sagen hat, nimmt Nietzsche einen vermeintlich je schon gegebenen vorkulturellen Zustand in Anspruch, in dem er den anderen nichts mehr zu sagen braucht. Die entsprechenden Passagen in Nietzsches späteren Texten sind symptomatisch für einen Zustand sozialer Desintegration – sonst aber auch gar nichts. Des kritischen Umgangs mit den kommunikativen Defiziten seiner Zeit glaubt sich Nietzsche durch den Hinweis auf ein sprachtheoretisches Konzept enthoben, in dem Verständigung (in einem normativ anspruchsvollen Sinne) überhaupt nicht mehr vorgesehen ist.

Christof Kalb ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Im Suhrkamp Verlag ist von ihm gerade das Buch „Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie“ (stw 1468) erschienen.

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