: Gott ist eine Steckdose
Der Sound des 20. Jahrhunderts braucht Strom statt Körper: Der Sampler „OHM“ zeigt die Entwicklung elektronischer Musik von 1948 bis 1980
Am Ende der Aufnahme sind die Buhrufe lauter als das Klatschen. Aber das gehörte zum Avantgardebetrieb dazu. Als John Cage 1952 seine Komposition „Williams Mix“ in New York aufführte, blieb das Zusammenspiel vorproduzierter Bänder mit Stimmengewirr, glucksenden Fröschen, Kratzlauten und allerlei schepperndem Geräusch für das Publikum noch relativ fremd. Es muss auch an der Präsentation gelegen haben: Wer mochte sich damals schon Maschinen statt Musiker anschauen? Karlheinz Stockhausen erging es 1956 ähnlich: Bei der Premiere seines „Gesang der Jünglinge“ im Kölner WDR-Sendesaal standen Lautsprecherboxen und elektronische Generatoren auf der Bühne.
Natürlich war Stockhausens Inszenierung als Stilmittel gedacht, ein elektronischer Schrein, der zeigen sollte, wie sich das Neue in der Musik vor allem auch visuell darstellen ließ. Gleichzeitig ging es ganz konkret um den Wechsel – weg von Virtuosen und Instrumenten, hin zu Sounds und Apparaturen. Die magischen Kanäle Marshall McLuhans, das Medium als Message, dieser vom Militär entwickelte Fortschritt durch Informationstechnik wurde nun von Musikern in die Praxis umgesetzt. Warum Turing-Codes und Kurzwellen den anderen überlassen? Darin lag der eigentliche Affront gegen das klassische Konzertwesen, der Komponisten wie Cage oder Stockhausen bis heute nachgetragen wird: Ihre Idee, Klänge zu generieren oder vorgefundenes akustisches Material zusammenzucutten, anstatt Ton für Ton zu schöpfen, galt und gilt noch immer als Verrat an künstlerischer Authentizität. Musik war plötzlich nicht mehr unmittelbarer Ausdruck von Genie, für dessen Anrufung sich Taktstockmeister und Solisten beim Live-Ereignis feiern lassen durften, sondern eine Mischung aus Denken, Arbeit und Apparaten. Selbst die Instrumente wurden nach einem Schaltplan zusammengelötet und nicht zärtlich von Hand gestrichen oder mit dem Mund geblasen.
Tatsächlich wirken die 42 Stücke schon ein wenig körperlos, die für den amerikanischen „OHM“-Sampler ausgewählt wurden, um auf 3 CDs die „early gurus of electronic music“ zwischen 1948 und 1980 zu dokumentieren. Man hört keine inspiriert ächzenden Pianisten mehr wie auf den Jazzplatten von Oscar Peterson oder Keith Jarrett. Und während Pablo Casals, über sein Cello gebeugt, leidenschaftlich zu Beethoven-Sonaten stöhnte, bleibt etwa bei Steve Reichs „Pendulum Music“ von 1968 nur ein schrilles Feedback der Mikrofone, das hin und her moduliert wird.
Dabei erinnert bereits der erste Track auf „OHM“ an eine spiritistische Séance. Clara Rockmore war als junge Geigerin aus Russland nach New York gekommen. Dort traf sie 1928 Leon Theremin, einen Musiker, Erfinder und Ingenieur, der von Lenin persönlich in den Westen geschickt worden war, um dem Kapitalismus zu zeigen, welche technischen Wunder die Sowjetunion vollbringen konnte. Das Wunder war ein Instrument, mit dem sich körpereigene, elektromagnetische Ladungen in Schallwellen übersetzen ließen. Sobald jemand nur mit der Hand in die Nähe des Stabs kam, gab es eine Rückkopplung durch Energieaustausch.
Im Verlauf der Reise, auf der Theremin sein gleichnamiges Gerät in den USA vorstellte, wurde Rockmore zu seiner Gehilfin und späteren Muse. Auch hier war vor allem der visuelle Eindruck bei Konzerten verblüffend: Zugeschnürt in weißem Kleid und mit streng nach hinten gezurrten schwarzen Haaren ähnelte Rockmore selbst einem unter Hypnose gesetzten Alien, dass wie in Trance fremdartige Klänge produzierte. Die Schaltung Mensch-Maschine hielt bald 60 Jahre. Auch nach Theremins Tod waren Rockmore und ihre klavierspielende Schwester die berühmtesten Interpreten – oder soll man sagen: Medien des elektronischen Zeitalters, die bei ihren Konzerten selbst Walzer von Tschaikowki zum Geräte-Happening machten.
Der „Mechanical Bride“ – noch so ein popvisionärer Buchtitel von Marshall McLuhan – folgten in den Sechzigerjahren Moog-Synthesizer und Mehrspurtonbandgeräte. Schließlich kamen telefonzentralengroße Computer hinzu, die im Fortran-Code nach stundenlanger Programmierzeit ein paar Fiepslaute von sich gaben, die heute jedes Handy produziert. Für Komponisten wie David Behrman ließ sich damit zwar nur wenig Sound, aber viel Bewusstsein erweitern – ohne seine Forschung in Sachen Live-Interaktion mit dem Computer hätte es vermutlich keine Kraftwerk-Gigs mit Taschenrechnern in der Hand gegeben.
Schon aufgrund der technischen Voraussetzungen konnten die meisten Elektronikkomponisten bis in die späten Siebzigerjahre nur im Rahmen universitärer Klangforschung mit entsprechenden Rechnern arbeiten. Daraus ergaben sich wiederum für Frauen neue Möglichkeiten. Noch heute stellt die in Texas angesiedelte „Alliance For Women In Music“ nicht bloß Stipendien für elektronische Kompositionen bereit. Das Material kann auch gleich auf der Website music.acu.edu/www/iawm abgelegt werden. Die Luftgitarre ist wohl endgültig passé. HARALD FRICKE
OHM: the early gurus of electronic music (ellipsis arts; SMD Schott)
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