: Mit Gespür für Selbstdarstellung
Hier ein Witz, dort ein Foto oder ein Autogramm – im Eiltempo erledigt Gerhard Schröder sein Programm. Die Rollenspiele sind dem Kanzler geläufig
aus Naumburg SEVERIN WEILAND
Da warten sie nun schon seit einer halben Stunde, die Sonne scheint, und der Oberbürgermeister nestelt an der goldenen Kette der Stadt. Doch der Gast lässt auf sich warten. „Na, der ist abgesackt“, sagt ein Rentner und sein Nebenmann lacht. Hat nicht der Kanzler am Abend zuvor, gleich nach seiner Ankunft in Naumburg, die örtlichen Genossen getroffen? Und haben die ihm nicht eine nachgebildete Traditionsfahne des Ortsvereins von 1864 gezeigt und sind danach zum geselligen Teil des Abends übergegangen?
Die Naumburger Rentner sind voller Verständnis: „Hauptsache, er kommt.“ Helmut Kohl, sagen sie, der „war ja nur zum Wahlkampf hier“. 1998 zuletzt, kurz vor der Bundestagswahl. Damals gab es Pfiffe und eine Demonstration von Gewerkschaftern. Jetzt aber besucht ein Kanzler offiziell die Stadt, trägt sich ins Goldene Buch ein, und das, so scheint es, zählt in den Augen der beiden Männer: „Der Schröder, der macht das richtig.“ Als er dann endlich kommt, der Kanzler aus Berlin, bringt er die ganze schöne Ordnung vor dem Rathaus durcheinander.
Plötzlich wird der Oberbürgermeister alleine gelassen mit seiner schönen Kette, die rund 500 Menschen drehen die Köpfe und einige beginnen sogar zu rennen. Schröder, der Mann mit dem Gespür für die Selbstdarstellung, hat einfach einen Seiteneingang zum Marktplatz genommen. Da schreitet er nun herein, kurz vor elf Uhr morgens, umtänzelt von Kamerateams und Fotografen. Winkt. Greift nach Händen. Sagt: „Guten Tag“ und „Hallo“. Ein junges Mädchen kichert aufgeregt: „Er hat mir die Hand gegeben.“ Sogar ein Bauarbeiter mit kahlem Schädel will sich den Kanzler nicht entgehen lassen und greift beherzt nach der ausgestreckten Hand.
Schröder gibt sich lässig. Ohne Sakko, mit dezentem hellblauen Schlips auf einem weißen Hemd, das von hellblauen Streifen durchzogen ist. Auch Reinhard Höppner, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, erscheint in Hemd und Schlips, aber er ist ganz in schwarz-grauen Tönen gekleidet, und gegen die strahlt der Kanzler umso heller an.
Naumburg, die elfte Station auf der Ost-Tournee des Kanzlers, hat sich nicht herausputzen müssen für den hohen Besuch. Die Stadt ist augenscheinlich ein Beispiel dafür, dass die Einheit irgendwie doch funktioniert hat. Manche Gebäude der fast 1.000 Jahre alten Stadt stehen zwar leer, aber weitaus weniger sind es als in anderen Orten des Ostens. Naumburg ist seit längerem im Modellprogramm für Altstadtsanierung, an dem der Bund beteiligt ist. Das ist zu sehen, vor allem am Marktplatz, wo die Fassaden in der Sonne leuchten und ein wenig süddeutschen Charme ausstrahlen.
„Keine Einbrüche wie andernorts“
Zwar sind 26 Prozent der arbeitsfähigen Bürger in der Stadt ohne Arbeit, aber klagen will man augenscheinlich nicht. Zumindestens nicht an diesem Tag. „Wir haben natürlich eine hohe Arbeitslosigkeit mit den üblichen Problemen, aber wir hatten nicht diese wirklichen Einbrüche wie andernorts“, sagt Hans-Dieter Speck, seit 35 Jahren Lokalredakteur und nun beim Naumburger Tageblatt. Naumburg mit seinem rund 30.000 Einwohnern lebt vom Tourismus und von der Verwaltung. In den Cafés der Gassen sitzen zur Mittagspause auffallend viele Männer in schicken Anzügen. Richter, Anwälte. Die Stadt ist Sitz des Oberlandesgerichtes von Sachsen-Anhalt und setzt damit eine mehr als 100 Jahre alte Tradition fort. Wo die Richter tagen, in einem prachtvollen Bau oberhalb des Domes, hatte einst die sowjetische Armee ihren Sitz – zu DDR-Zeiten waren rund 10.000 Rotarmisten am Rande der Stadt stationiert.
Garnisonsstadt ist Naumburg nicht wieder geworden, auch wenn in einer 100 Jahre alten Kadettenanstalt die Bundeswehr mit einer Fachschule und einem Ableger des Bundessprachenamtes vertreten ist, wo inländische wie ausländische Offiziere geschult werden. Auch an diesem Tag wird Schröder wieder einmal auf das Thema Rechtsexremismus angesprochen. Einer TV-Reporterin weist er darauf hin, dass die NPD eine Geburt des Westens sei, dass Rechtsextremismus gesamtdeutsch zu sehen sei. Das kommt an bei den Naumburgern.
Das Problem hält sich in Grenzen, glaubt man den Schilderungen der örtlichen Politiker. Westdeutsche sind hinzugezogen, viele Naumburger arbeiten in kleinen mittelständischen Betrieben. „Wir haben eine vergleichsweise gesunde Bevölkerungsstruktur“, sagt Thomas Klimke. Es gibt eine Mittelschicht, von der auch seine Partei profitiert. Der 42-Jährige ist seit 1992 Fraktionschef der Bündnisgrünen, die sich im Gemeinderat mit zwei anderen Gruppierungen zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammengetan haben. Klimke ist zugleich Leiter des Jugendzentrums „Otto“, eines von vieren in der Stadt. Rechte Jugendliche, erzählt er, seien außerhalb der Stadt, im Burgenlandkreis, schon eher ein Problem. Dort, wo das Weinanbaugebiet Saale-Unstrut sich über sanfte Berge erstreckt, hat es in den letzten Jahren einige Vorfälle gegeben. In Bad Kösen etwa, dem wenige Kilometer entfernten Kurort, wurden Kurgäste belästigt. Naumburg aber ist weitgehend verschont geblieben – der Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt erwähnt die Stadt nebenbei: Im Oktober 1999 durchgeführte Durchsuchungen von Wohnungen in Berlin hätten bestätigt, dass „Rechtsextremisten aus dem Raum Naumburg erneut Informationen über politische Gegner“ sammelten.
Kontakt zu Ausländern haben viele Naumburger Heranwachsende ausgerechnet über die Bundeswehr. In Klimkes Jugendzentrum kommen viele junge Offiziere des Bundessprachenamtes, darunter Schwarze aus Westafrika und Angehörige der Armeen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. „Das ist sozusagen der Kontakt Naumburgs zur großen, weiten Welt.“
Klimke sieht aus wie das Klischee eines Bürgerrechtlers: die Haare zum Zopf gebunden, Vollbart und Nickelbrille. Für den Besuch des Kanzlers hat er an diesem Tag sogar seinen alten Anzug herausgeholt und einen Schlips angelegt. Das fällt auch den Bauarbeitern auf, die vor dem Eingang des Domes zu Schröder hinabblicken und auf einmal munter werden, als sie Klimke im Tross ausgemacht haben: „Nen feinen Zwirn haste dir angelegt und den Bart gestutzt“, ruft einer herunter.
Guter Mann in der falschen Partei
Geschichte ist in Naumburg überall. Es gibt kaum einen Fleck, auf dem nicht andere schon ihren Fuß gesetzt haben: die Preußenkönige, Goethe und Napoleon. Da ist das Haus, in dem der schwerkranke Friedrich Nietzsche von 1890 bis 1897 von seiner Mutter gepflegt wurde und das die Stadt nach der Wende erwarb. Vor allem aber ist da der Dom, das Wahrzeichen der Stadt. In dessen Westchor der Hauptstifter Markgraf Ekkehard II. mit seiner Ehefrau Uta finster dreinblickt.
Vielleicht liegt es an der Tradition, dass Naumburg auf dieser Tournee des Kanzlers so gar nicht in das Bild des Ostens passen will. Die Arbeitslosigkeit hat viele zur Abwanderung gezwungen, andere aber sind aus dem Westen wieder zurückgekommen, wie der Oberbürgermeister Curt Becker. Der heute 64-jährige gebürtige Naumburger hat jahrelang als Staatsanwalt bei der Zentralstelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gearbeitet.
An diesem Vormittag zeigt er Schröder stolz seine Stadt. Im Innenhof des Marientores erzählt Becker ihm, dass die Stiftung Wüstenrot in Ludwigsburg die Hälfte der 3 Millionen Mark für die Sanierung gezahlt hat. Schröder weiß solches Engagement zu schätzen. Auch wenn er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen kann. Schließlich gehört Becker der CDU an: „Wer so gründlich und entschieden eintritt für Menschen wie Sie, der darf sich den politischen Irrtum leisten, in der falschen Partei zu sein“, sagt Schröder nach der Eintragung ins Goldene Buch. Der Gag sitzt, der Oberbürgermeister lacht, die Gemeinderatsmitglieder lachen, und der Kanzler ist zufrieden.
Hier ein Witz, dort ein Foto und eine Unterschrift – im Eiltempo und höchst professionell erledigt Schröder sein Programm. Eine Stunde und vierzig Minuten lang. Schon bei der Jägerkapelle, die vor dem Rathaus in ihre Hörner geblasen hat, hat er Punkte gesammelt. Was das zu bedeuten habe? „Das ist unsere Begrüßung“, sagt der Kapellmeister in seiner giftgrünen Jägeruniform ernst und feierlich. Und Schröder, der Mann, der sein Sakko im Wagen gelassen hat, kontert: „Ich dachte schon, Sie kündigen eine tote Sau an.“
Mal hemdsärmelig, mal staatstragend – Schröder versteht sich auf den Rollenwechsel. Im Dom lässt er sich, unter Ausschluss der Medien, vom 73-jährigen Professor Ernst Schubert führen. Der Domdechant, seit 23 Jahren im Amt und so etwas wie der Hausherr über das imposante Gebäude, ist nach dem Rundgang angetan. Der Kanzler habe zugehört und die „richtigen Fragen gestellt“.
Viele Größen der Politik hat Schubert schon durch den Dom geführt. Eines vor allem will Schubert an Schröder festgesellt haben: Der Mann strahle „Fortune“ aus. Das zumindestens scheint der Kanzler in Naumburg gefunden zu haben. Als die Wagenkolonne vor dem Dom abfährt, winken die Naumburger. Einige applaudieren sogar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen