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■ Briefe eines Eingeschlossenen – Sechster BriefSechzehn Jahr, blondes Haar, so stand sie vor ihm

Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt schon seit zwei Wochen im Keller seines Hauses fest, umgeben von teurem Wein, Marmelade und anderem Eingemachten. Nur seine Briefe dringen nach außen ...

Liebe Christine!

ich fühle mich schon den ganzen Tag über seltsam. Seltsam lebendig. Ständig blitzen Erinnerungen in meinem Bewusstsein auf. Wenn ich die Augen schließe, laden mich die Bilder ein, ihrer Dynamik zu folgen, mich ihrem Gefühl zu öffnen. Die Bilder fügen sich nicht zu einer Erzählung zusammen; sie sind weniger ein Spielfilm als fragmentartige Szenen auf der Super-8-Kassette eines Amateurfilmers. Die Erinnerungen spielen mit mir. Sie nehmen mich bei der Hand und ziehen mich ein Stück weit mit sich, dann lassen sie mich wieder los; ich öffne die Augen und starre auf die Regale mit den Weinflaschen und spüre ihrem Geschmack nach.

Gestern nacht habe ich von Dir geträumt. Ich ging eine dunkle Straße entlang. Im Schein einer Straßenlaterne sah ich Dich an eine Mauer gelehnt stehen. Deine Augen verfolgten mich. Ich blieb stehen und sah Dich an. Als ich mich Dir näherte, hobst Du Deine Fäuste vors Gesicht, als ob Du mich abwehren wolltest. Ich packte Dich bei den Handgelenken und ein Kräftemessen begann. Du warst fast so stark wie ich.

Schließlich gelang es mir, Dir die Arme hinter den Rücken zu biegen und sie dort festzuhalten. Wir sahen uns an. Deine klaren grauen Augen waren ohne jede Emotion, Dein Gesicht völlig ausdruckslos. Nein. Plötzlich war da ein Flackern in Deinen Augen, ein provozierendes, unanständiges Glänzen, das sagte: „Gib's mir. Nun mach' schon.“ Ich presste meine Lippen auf Deine und plötzlich hatte ich Deine Zunge im Mund. Du hast mich so stürmisch geküsst, dass ich fast an Dir erstickt wäre. Ich wachte hustend auf.

Dieser Traum hat irgend etwas in mir angestoßen. Seitdem überfluten mich die Erinnerungen an Dich in warmen Wellen. Die Erinnerungen sind fünfunddreißig Jahre alt, aber wenn ich mich ihnen hingebe, fühle ich mich, als wäre ich wieder sechzehn. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass die Vergangenheit so plas-tisch in meinem Kopf konserviert ist. Stimmungen, körperliche Empfindungen, Gerüche, es ist noch alles vorhanden. Die Sonne wärmt meinen Rücken. Wir rennen über eine Wiese, barfuß, ich kann das trockene Gras unter den Füßen spüren. Dein langes, helles Haar ist wie das Gras, es fliegt um Deine Schultern, manchmal drehst Du Dich um und lächelst mir zu. Du bist schnell mit Deinen langen, schlanken Beinen, die in engen Röhrenjeans stecken. Plötzlich gibst Du auf und lässt Dich zu Boden fallen, drehst Dich mir zu.

Sofort bin ich über Dir, knie breitbeinig über Deinem Schoß. Du atmest schwer, legst die Arme über Deinem Kopf ins Gras und lachst mich an. Du bist fünfzehn, vielleicht sechzehn, und Dein Gesicht glüht vor Hitze. Ich beobachte, wie Deine Brust sich hebt und senkt. Die oberen beiden Knöpfe Deines groben Hemdes sind geöffnet und geben den Blick auf die Sommersprossen der hellen Haut Deines Dekolletés frei. Ich öffne die restlichen Knöpfe von oben nach unten, wobei ich Dein Gesicht betrachte. Sanft fasse ich die Knopfleiste an beiden Seiten des Hemdes und ziehe es ein Stück weit auf, beuge mich über Dich und küsse Dich leicht zwischen die Brüste. Ich zittere vor Erregung am ganzen Körper.

Ich war lebendig damals, wir waren beide lebendig. Jeder Moment trug die Möglichkeit des Glücks und die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Mir scheint, wir hatten weder vor dem einen noch vor dem anderen Angst. Je älter ich wurde, desto weniger erlaubte ich mir zu Scheitern. Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ich sein wollte, und alles, was nicht ins Konzept passte, wurde bekämpft und geleugnet. Ich glaubte an einen Fortschritt, der in Wahrheit eine Verstümmelung war, eine Beschneidung meiner Möglichkeiten.

Als ich mich so weit abgesichert hatte, dass ich nicht mehr scheitern konnte, stellte ich fest, dass ich auch nicht mehr glücklich sein konnte. Ich glaubte immer, dass das der Preis des Erwachsenseins wäre. Wenn ich noch einmal sechzehn wäre, würde ich mit Dir auf ewig auf der Wiese liegen, dieses Spiel zwischen Anziehung und Ablehnung spielen, dieses Wandeln auf dem Grat zwischen Scheitern und Glück. Und ich würde nicht mit meinen Eltern fortziehen.

Dietmar

Tim Ingold

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