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Die singende Stadtrand-Jugend

„Jenseits von Mitte“, Teil 8: Gründe, nach Treptow zu fahren. In der Karaoke-Bar „Big A’s Inn“ können Jugendliche jung sein wie in Hongkong. Sie sind keine Asiapop-Fans, sondern kommen, weil man hier nicht reden muss, aber knutschen kann

von KIRSTEN KÜPPERS

In Hongkong singen Jugendliche gerne Karaoke. Es gibt dort Lokale mit klimatisierten Kabinen, die an Pornokinos erinnern. In den Kabinen sind jedoch nur Musikvideos zu sehen. Dazu kann man Karaoke singen. Junge Hongkong-Chinesen ziehen sich in kleinen Grüppchen in diese Kammern zurück, um beim Singen Privatsphäre zu haben. Über Telefone kann man sich Getränke bestellen. Die Kabinentüren haben Gucklöcher, durch die das Personal kontrolliert, dass drinnen nur gesungen wird.

In Deutschland ist Karaoke nicht Teil der Massenkultur. Jung sein wie in Hongkong kann man nur in Treptow. Dort gibt es die Karaoke-Bar „Big A’s Inn“ – zwar ohne schicke Kabinen, aber voller Jugendlicher. Die Karaoke-Teenager stehen hier auf einer mit niedrigem Holzaun und Blumenkästen eingefassten Bühne. An die Wand dahinter wird das zum Lied dazugehörige Video projiziert. Am unteren Bildrand läuft der Text durch.

Karaoke ist ein guter Gefühlskatalysator. Man muss nicht reden, um zu kommunizieren. Die blonde Sabine steht im Trockeneisnebel und singt mit unbeweglichem Gesicht „Ohne dich schlaf ich heut’ Nacht nicht ein“. Im Hintergrund wälzt sich ein Filmpärchen heftig küssend an einem Sandstrand.

Vor der Bühne wiegen sich zwei füllige Freundinnen geschmeidig im Takt der Musik. Auch andere im Raum summen mit. „Man hat die Freiheit, alles rauszulassen“, sagt Arno. Er ist arbeitslos und jeden Abend im „Big A’s Inn“. Heute tritt er mit „I did it my way“ auf.

Die jungen Leute kommen aus Treptow und den Nachbarbezirken am Stadtrand. Es geht hier nicht um exklusiven Geschmackseskapismus. Das zeigen die Musik, die Gesichter, die Buffalo-Schuhe und die rasierten Haaransätze. Die Jugendlichen hier sind weder Asiapop-Fans, Hongkong-Film-Liebhaber noch sonstiges Nischenpublikum, das Karaoke-Singen aus Gründen des Lebenstils betreibt. Man kommt hierher und singt, weil das „Big A’s Inn“ das Ausgehlokal der Clique ist. Wo man außerdem knutschen, Kokoslikör trinken oder gucken kann, was die Jungs so machen. Es geht um dasselbe wie bei den Teenagern in Hongkong.

Treptow ist bekannt für das sowjetische Ehrenmal und den Seniorentanz im Ausflugslokal „Zenner“. Die Jugend ist anderswo. Hat man sie gefunden, ahnt man, dass Aufwachsen in der Großstadt-Peripherie mutig machen muss. Andere Disco-Teenager singen nicht.

Montags bekommt der beste Karaoke-Interpret im „Big A’s Inn“ 30 Mark. Donnerstags ist gleichzeitig Karaoke- und SMS-Party. „Man schreibt seine Handy-Nummer auf einen Zettel und heftet sie sich ans T-Shirt“, erklärt Arno. „Dann können die anderen einen Text schicken.“ Er habe dabei noch nie mitgemacht. Dafür sei er doch zu schüchtern.

Karaoke-Sänger sind feinfühlige Menschen. Manche verfassen Gedichte. Im Branchenfachblatt Karaoke Magazin schreibt Karaoke-Sänger Jürgen Abel: „Ein unbeschreibliches Gefühl, / wenn alles applaudiert, / jetzt wird es wieder warm und kühl / ein Narr, wer’s nicht probiert.“

Das „Big A’s Inn“ befindet sich in der Elsenstrasse 115 in Treptow

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