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Keine Nachzahlung für alle

Die Bundesregierung wählt beim Kranken- und Arbeitslosengeld die „kleine Lösung“

FREIBURG taz ■ Wenn zwei das Gleiche tun, können sie höchst unterschiedlichen Ärger bekommen. Das spürt derzeit Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne). Genauso wie Arbeitsminister Walter Riester (SPD) will sie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kranken- und Arbeitslosengeld nur für die Zukunft sowie für „nicht bestandskräftige“ Fälle in der Vergangenheit umsetzen.

Da die Krankenkassen aber massiv eine Nachzahlung an alle Krankengeldbezieher fordern, konzentrieren sich die Prügel von Gewerkschaften und Bundestagsopposition nun ganz auf Fischer. Arbeitslose haben dagegen keine Lobby, so dass Kollege Riester dem Treiben relativ unbehelligt zusehen kann.

Ende Juni hatte Karlsruhe kritisiert, dass Weihnachts- und Urlaubsgeld nur bei der Höhe der Beiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung in Rechnung gestellt wurden, jedoch bei der Berechnung der Versicherungsleistungen keine Rolle spielten. Bis zum Juni 2001 muss der Bundestag nun eine Neuregelung beschließen. Hierfür hat die Regierung eine klare Marschroute ausgegeben: Nicht die Beiträge werden gesenkt, sondern die Leistungen an Arbeitslose und Langzeitkranke erhöht.

Entsprechend sieht auch die Übergangsregelung aus, die bereits seit 1. Juli gilt. Alle Bezieher von Kranken- und Arbeitslosengeld erhalten rund zehn Prozent höhere Zahlungen von ihrer Krankenkasse oder der Bundesanstalt für Arbeit. Ab 2001 soll die pauschale Mehrzahlung dann durch eine exakte Berücksichtigung von Weihnachts- und Urlaubsgeld bei der Leistungsvergabe abgelöst werden.

Umstritten ist nun aber nicht die Neuregelung für die Zukunft, sondern die Frage, wer mit Nachzahlungen für die Vergangenheit rechnen kann. Karlsruhe hat eine Nachzahlung – es geht in der Regel um mehrere tausend Mark – nur für Vorgänge angeordnet, die noch nicht rechtskräftig sind. Gemeint sind damit die Fälle, bei denen Widerspruch eingelegt wurde oder die Widerspruchsfrist noch läuft. An diese Mindestvorgabe wollen sich Fischer und Riester halten.

Interessanterweise werden deutlich mehr Langzeitkranke Nachzahlungen erhalten als Arbeitslose. So rechnet das Arbeitsministerium „nur“ mit einem Aufwand von 150 Millionen Mark für 50.000 bis 70.000 Arbeitslose, die gegen ihren Leistungsbescheid Widerspruch eingelegt haben. Dagegen geht das Gesundheitsministerium von einer Nachzahlungssumme in Höhe von knapp 1 Milliarde Mark aus. Der Unterschied erklärt sich daraus, dass Krankengeldbezieher in der Regel keinen Leistungsbescheid erhalten, den sie anfechten können. Hier gilt deshalb eine einjährige Widerspruchsfrist. Zum Zeitpunkt der Karlsruher Entscheidung waren also alle Leistungen des davor liegenden Jahres noch nicht bestandskräftig. Hier erfolgt – was von den Kassen bisher verschwiegen wird – automatisch eine Nachzahlung. Deren weiter gehende Nachzahlungsforderung richtet sich nur noch auf den davorliegenden Zeitraum von 1997 bis Mitte 1999.

Die Kassen engagieren sich deshalb so stark für eine allgemeine Rückzahlung, weil sie sich bei ihren Versicherten im Wort fühlen. Tatsächlich haben sie vor dem Karlsruher Verfahren stets versucht, ihre Mitglieder von der Erhebung von Widersprüchen abzuhalten. „Sollte eine Prüfung des Gesetzes ergeben, dass die Krankenkassen zu viel Beiträge erhalten haben“, so hieß es etwa in einer AOK-Mitteilung aus dem Jahr 1997, „versichert die AOK schon heute: Zu viel erhaltene Beiträge werden unbürokratisch zurückerstattet.“

Wortbruch müssten sich die Krankenkassen nun aber auch nicht vorwerfen lassen. Ihr Versprechen bezog sich nämlich nur auf zu viel bezahlte Kassenbeiträge, und eben nicht auf zu geringe Krankengelder. Sie reagierten damals auf eine Kampagne von Gewerkschaften und Bild-Zeitung, die alle rund 40 Millionen Krankenversicherten aufforderten, gegen ihren Beitragsbescheid Widerspruch einzulegen. Auf diesen Unterschied will nun heute aber keine Kasse hinweisen. Lieber prügelt man gemeinsam auf Andrea Fischer ein.

Fischer kann aber aus zwei Gründen nicht nachgeben. Zum einen würde eine große Lösung (die Nachzahlung an alle Krankengeldbezieher) bei den Kassen zu Mehrkosten in Höhe von rund 3 bis 4 Milliarden Mark führen – was vermutlich Beitragserhöhungen zur Folge hätte. Zum anderen könnte sie aber auch keinen Alleingang ohne Riester unternehmen, in dessen Haushalt eine große Lösung aber ein noch schwerer zu finanzierendes 20-Milliarden-Loch reißen würde.

CHRISTIAN RATH

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