: Simulierte Tatkraft
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
Unser Zeitalter trieft von Tatkraft. Es will nicht mehr Gedanken, sondern nur noch Taten sehn. Diese furchtbare Tatkraft rührt davon her, dass man nichts zu tun hat. Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930)
Es gibt nichts zu tun, also packen wir’s an – so oder ähnlich muss man sich wohl den Ruck vorstellen, der durch den Urmenschen ging, als er sich in seiner paradiesischen Urlandschaft umblickte und daran ging, die Zivilisation aufzubauen. Aus seiner furchtbaren Tatkraft ging dann alles hervor, was folgte – vom ersten fachgerecht bearbeiteten Tierknochen bis zum Raumschiff (siehe Kubricks alten Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, dessen Verleiher schon in den Startlöchern für die zweite weltweite Vermarktung sitzt). Keine Frage, Tatkraft hat die Menschheit vorangetrieben und ihr alles Glück, aber auch alles Unglück beschert.
Es gab Zeitalter, deren Machthaber vor Tatkraft aus den Nähten platzten, obwohl oder gerade weil ihre Zeit abgelaufen war und es für sie nichts mehr zu tun gab. Musils Mann ohne Eigenschaften lebte – 1913 im habsburgischen Österreich – in einer solchen Zeit und unter solchen Machthabern. Es folgte – mit dem 1. Weltkrieg – das erste Massenmorden auf technisch-industrieller Grundlage. Und als Musil seinen Roman veröffentlichte, war es bald wieder soweit. In Deutschland gab es damals eine Menge zu tun, aber es fanden sich Leute, deren furchtbare Tatkraft nur in die Katastrophe führen konnte. Zeihen wir also Musil nicht der Paradoxie – er hatte Gründe, über die Tatkraft im vergangenen Jahrhundert nachzudenken.
Seither ist viel Zeit vergangen, das Bild ist diffuser geworden, das Problem mit der Tatkraft scheint verwickelter. Können wir dem Boeing-Chef Condit, der auch nach dem Concorde-Unglück am Projekt des Überschall-jets festhält, wenn er erst einmal preiswert produziert werden kann, vorwerfen, er sei von furchtbarer Tatkraft erfüllt? Wohl kaum – er ist nicht mehr als ein strategisches Rädchen in einer Maschinerie, die, wie gesagt, schon der Urmensch in Gang gesetzt hat und die unveränderlich auf „Weitermachen“ programmiert ist. Tatkraft bewiese derjenige, der ihren Mechanismus abstellen könnte – doch allein der Gedanke ans Abstellen ist offenbar so abwegig, dass, wenn man tatsächlich einmal Verhandlungen über das Abstellen aufnimmt, das dabei herauskommt, was bei den Verhandlungen über das Abstellen der Atomkraftwerke herausgekommen ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Globalisierung. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass heute überall äußerst tatkräftige Menschen um den Globus jetten und die Globalisierung vorantreiben. Kaum vergeht ein Tag, an dem nicht irgendjemand uns anschreit und fragt, ob wir auch unsere Globalisierungs-Hausaufgaben gemacht haben. Furchtbare Tatkraft? Weit gefehlt. Die Auflösung der nationalen Märkte, die schon im „Kommunistischen Manifest“ kundig erklärt wurde, ist in ihre letzte Phase getreten und hat eine Rasanz erreicht, dass selbst diejenigen, die von ihr profitieren, das Tempo nicht mehr mithalten können – wie an den hektischen und oft unüberlegten Konzernfusionen zu sehen ist. Wenn es aber den Managern schon so geht – wie sollte dann der 20-jährige Firmengründer, dem man eingeredet hat, er sei Bill Gates, seiner Rolle als Musterknabe an Tatkraft entsprechen können? Auch hier gilt, dass die Jäger eher die Gejagten sind. Man ist versucht zu sagen: Für wirkliche Taten, für ein aktives Dasein fehlt heute einfach die Zeit. Am meisten leidet die Politik darunter. Das Schlagwort vom „politischen Gestalten“ ist aufgekommen, als immer deutlicher wurde, dass das, was es benennt, praktisch nicht mehr stattfindet. Zum Glück fehlen die Machthaber, die vor Tatkraft durchdrehen, weil sie nichts zu tun haben – dafür haben wir Machthaber, die den ganzen Tag rotieren, weil sie nichts anderes zu tun haben, als den Verlust ihrer Gestaltungskompetenz dadurch wettzumachen, dass sie „Zeichen setzen“.
Das ist durchaus etwas anderes als das, was Musil meinte, als er von „furchtbarer Tatkraft“ sprach. Unser Außenminister ist möglicherweise strukturell ein tatkräftiger Mensch, und es sei auch gar nicht angezweifelt, dass er vom frühen Morgen bis in den späten Abend in Bewegung ist, um Zeichen dafür zu setzen, dass man ihn zum Außenminister ernannt hat. Darin unterscheidet er sich allerdings in keiner Weise von seinem Vorgänger. Was ihn von seinem Vorgänger unterscheidet, ist seine Fähigkeit, gelegentlich erkennen zu lassen, dass die Differenz zwischen einer Politik des Gestaltens und einer des Zeichensetzens an den Kräften zehrt. Auch damit setzt er freilich wieder nur ein Zeichen – was immerhin erklären mag, dass er zum Langstreckenläufer auf Platz 1 der Popularitätsskala geworden ist.
Jedenfalls lassen sich die Ergebnisse seines Tuns schwerlich mit den Resultaten tatkräftigen Handelns verwechseln, was im Übrigen gar nicht in erster Linie ihm selbst anzulasten ist, sondern dem Umstand, dass Politik insgesamt weitgehend zur Nachvollzugspolitik – gegenüber der Ökonomie – geworden ist, sodass einem Außenminister kaum ein anderer Ausweg bleibt, als seinerseits Nachvollzugspolitik zu betreiben: gegenüber einem Kanzler, der selbst den ökonomischen Zwängen ausgeliefert ist. Von Tatkraft – sei es in ihrer furchtbaren oder segensreichen Spielart – kann keinesfalls die Rede sein.
Was das Phänomen der Tatkraft betrifft, sieht es vielmehr so aus, als sei unsere Epoche in ein schwarzes Loch gefallen. Zu viele wichtige Dinge – von der Weltwirtschaft bis zur Daily Soap – haben eine Eigendynamik entwickelt, die dahin führt, dass die bereits vom Urmenschen gestartete Maschinerie sozusagen von selbst läuft. Die allgemeine Nervosität ist nur dadurch zu erklären, dass sie sehr viel schneller läuft als – sagen wir mal – zu Nietzsches Zeiten und daher einerseits die Akteure große Mühe haben, die Wirklichkeit als ihr Werk auszugeben, andererseits Nietzsche wieder Hochkonjunktur hat. Oder genauer: Die Konstruktion des Tatmenschen, die ja von der Nietzsche-Rezeption im Wesentlichen übrig geblieben ist und auf die auch Musil anspielte, als er über sein von Tatkraft triefendes Zeitalter nachdachte.
Ein Zeitalter, das hauptsächlich von simulierter Tatkraft lebt, ist nicht weniger ungemütlich als eines, das von Tatkraft trieft. Der neue Rechtsextremismus, dessen krude Tatkraft jetzt plötzlich bewirkt hat, dass alle möglichen Leute sich genötigt sehen, Zeichen zu setzen, hat vielleicht auch in dem hilflosen Bewusstsein seine Wurzeln, dass in unseren modernen Gesellschaften dem Wunsch nach aktivem Dasein und sinnvollem Handeln immer mehr der Atem ausgeht. „Die Vorbilder fehlen“ – so lautet die sozialpädagogische Auskunft. Aber ein Jungunternehmer, der, gestresst durch den Druck der Konkurrenz und das Affentempo der so genannten Informationsgesellschaft, alle Kräfte mobilisiert, um seinen Laden so schnell wie möglich an die Börse zu bringen, hat einfach keine Zeit, um nebenbei noch ein gesellschaftliches Vorbild abzugeben. Er hat genug damit zu tun, sich selbst vorzumachen, dass sein fieberhaftes Agieren seiner Tatkraft entspringt.
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