: Der ungleiche Wettkampf
Die Ureinwohner Australiens werden selbst im Sport zum Opfer des weißen Rassismus – trotz einer Leichtathletin wie Cathy Freeman
von COLIN TATZ
In Sydney werden zehn oder elf Aborigines zum etwa sechshundertköpfigen australischen Olympiateam gehören. Da sich die Zahl der Aborigines auf gerade einmal 353.000 Angehörige beläuft, stimmt der Prozentsatz.
Die faktische Quotierung erfüllt drei Zwecke: Erstens gestattet sie uns, mit der Vergangenheit aufzuräumen, indem wir auf die rosige Gegenwart verweisen. Zweitens gibt sie uns Gelegenheit, Erfolg, Anmut und soziale Mobilität der Athleten der Aborigines und den Respekt für sie als Teil normaler kollektiver „Australischkeit“ zu reklamieren. Drittens bietet er uns im Widerspruch dazu Gelegenheit, die Leichtathletin Cathy Freeman – das nationale Idol – als Repräsentantin aller „Aboriginalität“, zumindest aber aller Aboriginefrauen, zu feiern. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Seit dem Ende der Sklaverei in Nordamerika musste keine andere Bevökerungsgruppe annähernd so viel leiden wie die Ureinwohner Australiens, die Aborigines: Gewehr und Peitsche, Halsfesseln und Vergewaltigung, Verbannung, Zwangstrennung von Kindern, Sondergesetze, rechtliche Benachteiligungen bis hin zur Verfassung. Und die Vergangenheit ist noch nicht überwunden. Die Diskriminierung der Aborigines – ihr Herein- und Hinausdefinieren aus der Gesellschaft durch andere – hat nicht aufgehört.
Im 19. Jahrhundert betrachteten Missionare das Cricketspiel als zivilisierende Tätigkeit und brachten es den Eingeborenen bei. Aborigines galten als Kinder Satans, abstoßend, verderbt, degradiert, hinterhältig, grausam und jämmerlich. Im Team gebündelt, hatten Aborigines großen Erfolg, auch auf einer Englandtournee im Jahre 1868.
Doch die Evangelisierung durch Cricket währte nur kurz. Anfang des vorigen Jahrhunderts beendeten dies die Behörden: Offensichtlich waren die Aborigines zu sehr ermutigt worden, mit den europäischen Einwanderern zu wetteifern. Das war das Urteil des Oberprotektors der Aborigines in Queensland, Archibald Meston, der die Ureinwohner vor mörderischen Anwandlungen der Siedler bewahren sollte.
Wollten die Ureinwohner sportliches Talent nutzen, um den Reservaten und Missionsstationen zu entkommen, so war ihre einzige andere Möglichkeit das professionelle Laufen. Darin waren sie sehr gut. Charlie Samuels war der Champion in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Die große Sportzeitung Referee erklärte ihn zum besten Läufer aller Zeiten – obwohl den Australiern ein Weißer lieber gewesen wäre.
Sportler und Fans von Fraser Island forderten den Gouverneur von Queensland auf, Aborigines von Wettkämpfen auszuschließen – weil sie immer gewannen! Der Verband der Leichtathletikamateure von Queensland schloss Aborigines mit der Begründung aus, sie seien allesamt Profis. Und die Profis versahen in ihren Programmheften den Namen jedes schwarzen Läufers mit einem „a“, „cp“ oder „hc“ – für „Aborigine“, „coloured person“ (Farbiger) oder „half-caste“ (Mischling), um, wie sie meinten, die Öffentlichkeit nicht in die Irre zu führen. Worin die Irreführung bestand, erklärten sie nicht.
Der einzige sportliche Ausweg, der den Aborigines blieb, war das Boxen. 1912 gewann Jerry Jerome die australische Mittelgewichtsmeisterschaft. Bis Ende 1999 haben bei nationalen Wettkämpfen 51 Aborigines 71 Profititel und 27 Amateurtitel gewonnen. Ihren Erfolg verdanken sie mehreren Umständen: dem leichten Zugang zu diesem Sport, der Tatsache, dass ihnen fast alle anderen sportlichen Wege verschlossen waren und der unwiderstehlichen Gelegenheit, schnelles Geld zu machen.
Sicher waren sie im Verhältnis zu ihrer Zahl überrepräsentiert, doch wurden und werden sie krass ausgebeutet, schlecht gemanagt und als Art Gladiatoren und Entertainer behandelt. Einige wurden zum Trinken animiert, damit sie mehr Geld benötigten und mehr kämpften. 1946 absolvierte George Kapeen fünfzehn Kämpfe zu zehn Runden in sechzig Tagen.
Trotzdem hatte der Boxsport für die Aborigines bis vor kurzem eine besonderen Glanz – als Ausweg aus Reservat, Armut und Demütigung. Schaukämpfer Henry Collins: „Ich fühlte mich gut, wenn ich weiße Typen k.o. schlug. So wie die ihre Überlegenheit draußen zeigten, zeigte ich meine im Ring.“ Zwei der zehn australischen Boxer bei den Spielen in Sydney sind Aborigines.
Die australischen Football- und Rugbyligen rühmen sich inzwischen, unter ihren Spielern seien Aborigines überrepräsentiert: zehn bis dreizehn Prozent der Spieler in der jeweils höchsten Spielklasse, obwohl Aborigines kaum zwei Prozent der Bevölkerung stellen. Das ist eine Veränderung zum Besseren, aber solche Prozentzahlen verschleiern die jüngere Geschichte nur.
Die Victorianische Footballliga (inzwischen Australische Footballliga), in der man australischen Football spielt – eine Mischung aus Rugby, Faust- und Fußball – wurde 1897 gegründet. Seitdem gab es in der Senior Division um die elftausend Spieler, davon nur 115 Aborigines. Heutzutage sind die Aborigines Stars. Sie brillieren, begeistern, erzürnen und gewinnen Finalspiele. Jetzt wird ihre Allgegenwart als normal gepriesen. Aber von 1897 bis 1980 gab es nur zwanzig von ihnen, die es in diese Liga geschafft haben! Lächerlich zu behaupten, damals hätten die Aborigines nicht das Tempo, die Gewandtheit und Muskeln für ein Spiel gehabt, das sie nach der These einige Wissenschaftler möglicherweise selbst erfunden haben.
Die vielen heutigen Spieler wurden verspätet und bis vor vielleicht fünf Jahren nur widerwillig akzeptiert. Der Wendepunkt war 1993. Die berüchtigten Fans der Collingwood Magpies beschimpften Nicky Winmar von den St. Kilda Saints heftig. Als Antwort hob er sein Trikot an und zeigte stolz auf seine schwarze Haut. Was früher als dreistes Negergehabe betrachtet worden wäre, fand nun die Unterstützung der Presse. Immerhin ist inzwischen ein Verhaltenskodex gegen rassistische Ausfälle etabliert worden.
Aber in den unteren Ligen, in Kleinstädten auf dem Land und abgelegenen Ortschaften, grassiert die Diskriminierung wie ehedem. In Western und South Australia sowie Victoria wurden mehrere Mannschaften von Aborigines aus Ligen ausgeschlossen, vorgeblich wegen des schlechten Benehmens ihrer Zuschauer und deren schlimmer Ausdrucksweise. Aber haben blau getönte Damen, die auf der Mitgliedertribüne des Cricketstadions von Melbourne „Geh doch dein Benzin schnüffeln, du schwarze Scheißfotze“ schreien, etwa eine gute Ausdrucksweise?
Nicht anders geht es in der professionellen Rugbyliga zu: Dutzende von Schwarzen bringen hervorragende Leistungen in der Senior Division, doch noch immer sind Mannschaften von Aborigines in drei wichtigen Städten in New South Wales aus den Ligen ausgeschlossen. Das ist katastrophal, denn Rugby ist in vielen dieser perspektivlosen Städte der einzige Sinn des Lebens.
Seit den Siebzigerjahren haben sich Aborigines um reine Aboriginesteams bemüht. Die Antwort waren empörte „Apartheid“-Schreie. Wir integrieren euch doch, sagen die Funktionäre. Aber das unausgesprochene Motiv ist überdeutlich – ohne schwarze Talente keine Titelgewinn. Hier werden Aborigines herein- und nicht hinauszensiert. Letztes Jahr absolvierte eine Aboriginesrugbymannschaft zwei Testspiele gegen Papuaneuguinea. Die Funktionäre sind äußerst beunruhigt über diesen Trend.
Gravierender ist das Ausmaß des Ausgeschlossenwerdens. In den meisten Orten der Aborigines gibt es keine Sportanlagen. Wörter wie Spielfeld, Aschenbahn, Schwimmbad, Sporthalle, Trainer, Physiotherapeut, Stipendium fehlen im Wortschatz und den Erfahrungen der Aborigines. Betrachtet man die Kosten, mit denen das Sporttreiben in ländlichen Gebieten Australiens verbunden ist, als eine Art Steuer, dann zahlen die Aborigines höhere Steuern als jede andere Bevölkerungsgruppe in Australien. Und: Der Frauensport der Aborigines ist der meistignorierte, am geringsten geförderte und unterstützte Bereich in Australiens Sportlandschaft.
Bis vor kurzem hat sich die australische Sportkommission, die die Sportpolitik der Regierung koordiniert, nur mit Leistungssport und der Suche nach Medaillengewinnern für internationale Wettkämpfe befasst. Allmählich beginnt sie nun zu verstehen, dass Sport für Aborigines eine Frage des sozialen und physischen Überlebens ist, dass Sport nicht nur bei der Reduzierung der Kriminalität eine wesentliche Rolle spielt, sondern auch bei der Eindämmung der Jugendselbstmordrate (die höchste der Welt) unter den Ureinwohnern. Trotzdem ist Sport bislang der einzige Bereich, auf dem sich Aborigines – ohne Ausbildung, mit schlechter Schulbildung, unterbeschäftigt, schlecht ernährt – erfolgreich mit dem Mainstream messen können – und sei es nur für einen sportlichen Moment.
COLIN TATZ, 65, unterrichtete Politikwissenschaft an der University of Western Sydney. Jüngstes Buch: „Black Gold: The Aboriginal and Islander Sports Hall of Fame“ (als Koautor). Die Übersetzung des Textes aus dem Englischen besorgte CHRISTOPH DREYER
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