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Plebiszite statt Placebos

Günter Verheugen will mehr Demokratie wagen. Doch selbst die rot-grüne Regierung kritisiert ihn nur empört, anstatt seine Vorschläge vernünftig zu debattieren

Entscheidungen, die den „Charakter des Staates verändern“, brauchen die Zustimmung des Volkes

Günter Verheugen hätte es wissen müssen. Wer jemals als Politiker, Mutter, Ehepartner oder in sonst irgendeiner Rolle den Finger auf eine offene Wunde gelegt hat, kennt doch das Muster: Je schmerzlicher ein Thema ist, desto schneller entsteht Streit. Den nutzt die Gegenseite vor allem, um auf einen Nebenkriegsschauplatz abzulenken. Nichts anderes ist dem EU-Kommissar im Zusammenhang mit seinen Äußerungen über Demokratiedefizite der Europapolitik widerfahren. Insofern hat Verheugen Recht, wenn er seine Bemerkungen jetzt selbstkritisch als „Flop“ bezeichnet. Aber auch nur in dieser Hinsicht.

Empört und aufgeregt haben Parteifreunde des EU-Kommissars ebenso wie dessen politische Gegner in den letzten Tagen eine Forderung zurückgewiesen, die Verheugen so gar nicht erhoben hatte: das Grundgesetz mit dem Ziel zu ändern, dem deutschen Volk eine Abstimmung über die Osterweiterung der EU zu ermöglichen. Wer das ausführliche Interview mit dem SPD-Politiker liest, kann unschwer erkennen, dass es ihm im Kern um etwas anderes geht. Er warnt vor den möglichen Folgen einer Politik, die es nicht mehr für nötig hält, sich bei weitreichenden, irreversiblen Entscheidungen der Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung zu versichern. Diese Warnung ist berechtigt.

Schon recht, sagen nun die Kritiker von Günter Verheugen. Aber die EU-Erweiterung sei für dieses Anliegen das falsche Thema. Tatsächlich wiegt von allen Einwänden gegen ein Referendum wohl der am schwersten, dass die Beitrittskandidaten in den letzten Jahren bereits allzu große Anstrengungen unternommen haben, als dass man ihnen jetzt noch weitere Zumutungen abverlangen oder sie gar endgültig zurückweisen dürfte. Das widerspräche dem Prinzip von Treu und Glauben im Umgang miteinander. Dieser Hinweis kann aber doch das Unbehagen über unzureichende demokratische Legitimität der Europapolitik nicht entkräften. Die großen Parteien verfolgen auf diesem politischen Feld schon seit Jahren einen gemeinsamen Kurs. Anders als bei wichtigen außenpolitischen Fragen der Vergangenheit wie der Westbindung und den Ostverträgen spiegeln sie deshalb den Streit der verschiedenen Meinungen nicht wider, die es in der Bevölkerung gibt.

Viele Deutsche – laut Umfragen sogar eine substanzielle Mehrheit der Bevölkerung – stehen der EU-Erweiterung ablehnend gegenüber. Auch diese Tatsache wird von Verheugens Kritikern als Argument gegen ein Referendum ins Feld geführt. Die Offenheit ist entwaffnend: Weil das Volk nicht so will wie die Herrschenden, darf es nicht gefragt werden. Statt dass es den versammelten Demokraten ein umso dringlicheres Anliegen wäre, Wählerinnen und Wähler von der Richtigkeit ihrer Argumente zu überzeugen! Das Thema sei so fürchterlich komplex, dass es sich der Bevölkerung einfach nicht erklären lasse, wenden Fachleute gerne ein. Es ist schon seltsam: Je einiger die Parteien, desto komplexer das jeweilige Thema. Der Zwang, sich der Öffentlichkeit verständlich zu machen, wird regelmäßig erst durch Widerspruch des politischen Gegners hervorgerufen.

Beifall von der falschen Seite und Auftrieb für Rechtspopulisten fürchten Gegner von Plebisziten im Bereich der Europapolitik. Man müsse die Idee einer Volksabstimmung in Deutschland über Polens EU-Beitritt zu Ende denken, raunt Joschka Fischer dräuend. Na schön, möge er es zu Ende denken. Zugleich aber sollte ein Anfang mit dem Nachdenken darüber gemacht werden, dass Populisten derzeit zu Recht darauf hinweisen können, niemand schere sich um die Meinung des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Die Folgen dessen können fürchterlich sein. Ausländerfeindliche Ressentiments verschwinden nicht alleine deshalb, weil Staaten feierlich Verträge unterzeichnen.

Vieles hätte dafür gesprochen, zu einem früheren Zeitpunkt ein Referendum über die EU-Erweiterung abzuhalten und dafür um Zustimmung zu werben. Jetzt ist es dafür zu spät. Aber hätte Verheugen deshalb schweigen sollen? Welches andere Beispiel hätte er für seine Mahnung denn noch wählen können? Der Euro ist ja bereits beschlossen – ebenfalls gegen den Willen weiter Teile der Bevölkerung. Wie groß darf die Kluft zwischen Regierenden und Regierten in einer Demokratie sein? Wenn nicht bald ein Weg gefunden wird, diese wachsende Distanz zu überbrücken, sollte die politische Klasse sich vielleicht auf die Position verständigen, die wahre Bedrohung der Demokratie liege in Wahlen. Deshalb müssten sie abgeschafft werden.

Es ist pikant, dass Günter Verheugen ausgerechnet in einer Woche verprügelt worden ist, in der die Koalitonsparteien versprochen haben, sich um eine Stärkung plebiszitärer Elemente zu bemühen, und in der auch die FDP mit ihrem untrüglichen Gefühl für Windrichtungen entsprechende Initiativen angekündigt hat. Allein die CDU sperrt sich noch. Sie möchte offenbar auch weiterhin lieber auf Straßenkampagnen setzen. Die Diskussion über Plebiszite nimmt allerdings einen merkwürdigen Verlauf. Ihre Gegner tun so, als solle künftig die Bevölkerung über jeden Spiegelstrich abstimmen. Manche Befürworter von Volksentscheiden scheinen dagegen zu glauben, deren Einführung allein sei bereits eine Gewähr für ein neues Aufblühen der Demokratie. Mit beiden Positionen wird das Thema hoffnungslos überfrachtet.

Verheugens Kritiker meinen: Weil das Volk nicht so will wie die Herrschenden, darf es nicht gefragt werden

Als das Grundgesetz in Kraft trat, lagen Weimarer Rubublik und Drittes Reich erst wenige Jahre zurück. Es gab gute Gründe für Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk. Heute wird die deutsche Vergangenheit nicht einmal mehr als Argument gegen Auslandseinsätze von Bundeswehrsoldaten ins Feld geführt. Dann sollte sie auch nicht länger zur Ablehnung plebiszitärer Elemente in der Verfassung herhalten müssen. Die allermeisten Themen sind für Volksentscheide allerdings ungeeignet, vor allem Bereiche, in denen es im allerweitesten Sinne um den Schutz und die Rechte von Minderheiten geht. Maßnahmen dafür haben nur selten Aussicht auf den jubelnden Beifall der Mehrheit. Wäre es anders, dann wären solche Maßnahmen im Allgemeinen gar nicht nötig.

Entscheidungen jedoch, die den „Charakter des Staates verändern“ (Verheugen), sollten nicht ohne Zustimmung der Bevölkerung getroffen werden dürfen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten nicht vorhersehen, dass eines Tages ein auf Zeit gewähltes Parlament wesentliche Teile der eigenen Befugnis unwiderruflich und auf Dauer an eine andere, übergeordnete Instanz abtreten würde. Dafür bedarf es öffentlicher Zustimmung. Manche Befürworter der direkten Demokratie erwecken allerdings derzeit den Verdacht, sie wollten die Bevölkerung nur bei möglichst unwichtigen Themen nach ihrer Meinung fragen – und so ein bisschen weiße Salbe auf offene Wunden der Demokratie schmieren. Dann doch lieber gar kein Plebiszit. Als Placebo taugt das Mittel des Volksentscheids nicht. BETTINA GAUS

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