: Eine spielerische Routinesiegerin
Die junge Russin Ivetta Gerasimchuk auf Lesereise in Deutschland. Mit ihrem Text voll Ironie und Raffinesse gewann sie im Dezember 1999 in Weimar gegen renommierte Denkerkonkurrenz den Essay-Wettbewerb von „Lettre International“
von BERND MÜLLENDER
Erster Eindruck: Ein Hauch von einer Person. Scheu wirkt sie, blass und zart, die Stimme zurückhaltend leise, die Mimik freundlich, aber ernsthaft gesammelt, der Händedruck fast wie ein Streicheln. Ach, spazieren gehen lieber nicht, sagt sie, sie fühle sich ein wenig krank und möchte sich deshalb lieber in den Wintergarten setzen.
Wir sind in Langenbroich in der Voreifel im Gästehaus der Heinrich-Böll-Stiftung. Ivetta Gerasimchuk, heute 21, ist Stipendiatin der Stiftung. An einer Wand im Wintergarten hängt ein Foto von Heinrich Böll. „Der Chef“, sagt Ivetta. Und schickt einen Hauch schelmisches Lächeln hinterher.
Vom Hauch hat sie auch geschrieben. Vom Windhauch. Und vom tosenden Orkan. Das alles als Chiffren für menschliches Verhalten und philosophische Denkschulen. Bei Gerasimchuk gibt es die Welt der „Anemophilen“, das sind die Windanbeter: die den wütendsten Sturm der leichten Brise vorziehen und „alle Veränderungen begrüßen, selbst wenn es keine Veränderungen zum Besseren sind“. Und die „Chronisten“ als Gegenspieler, konservative Flautenfreunde und Vergangenheitsverehrer („Das Fehlen von Neuigkeiten ist eine gute Neuigkeit“), die „selbst im stickigsten Zimmer bei geschlossenem Fenster sitzen und niemals den Ventilator einschalten“. Heraus kam der 48-seitige Essay „Wörterbuch der Winde“. Geschrieben mit 19 Jahren.
Damit hat Ivetta Gerasimchuk beim ersten weltumspannenden philosophischen Wettbewerb renommierte Konkurrenz von Denkern, Philosophen und Kulturhistorikern aus dem Weg geräumt und mal eben den 1. Preis gewonnen (siehe Kasten).
Mit 19 solch einen Text schreiben – in einem ein Alter, in dem andere durch die Diskos toben, das Leben ertesten und ertasten, aufmucken oder in Ivettas Sinn chronistengleich „no future“ kultivieren? „Warum nicht!“, sagt sie. „Es war kein Risiko, mitzumachen. Es war ja anonym.“ Als hätte sich die Studentin aus Moskau blamieren können.
Das Thema ihr Spezialgebiet? „Nein, warum?“ Die Frage nach Vergangenheit und Zukunft habe sie gereizt in ihrer ganzen Bandbreite. Sie studiere ja auch die verschiedensten Dinge. Und zählt die halbe Alma Mater auf: Philosophie, Literatur, Politik, Internationale Beziehungen, Ökologie, insbesondere ökonomische und philosophische Aspekte des Umweltschutzes. Nebenbei hat sie bislang Englisch, Deutsch, Afrikaans und Latein gelernt. „Für mich war das normal.“ Ein kleines Lachen, nicht mal kokett.
Jetzt fragen alle, warum und wieso. Warum, fragt sie, warum wundern sich alle? „Die Überlegungen“ seien ihr „außer in Gesprächen meist in der Moskauer U-Bahn gekommen, nichts Besonderes.“ Neulich war sie zur Lesung in der Schweiz, da habe jemand gesagt, sie habe das womöglich nur so schreiben können, weil sie Zwilling sei, wegen der vielschichtigen Gegensätze in einer Person. Lustig, diese Erklärungsversuche. Ach was, sie glaube nicht an Astrologie.
Ivetta studiert an einer renommierten Uni in Moskau, die mehrheitlich von Diplomatenkindern besucht wird. Das Wort Elite vermeidet sie, nur: „In Deutschland gibt es so eine Hochschule nicht.“ Elite wäre auch nicht ganz richtig: Denn wie ist die Tochter eines Ingenieurs und einer Übersetzerin aus Samara, tausend Kilometer von Moskau entfernt, dort gelandet? „Normalerweise haben Kinder aus der Provinz keine Chance. Aber ich habe“, die Stimme wird wieder leiser, „halt auch einen Wettbewerb gewonnen.“ Aha, Ivetta, die junge Routinesiegerin! Das Wort gefällt ihr. Und sie kichert ziemlich laut.
Unvermittelt wird sie ironisch, witzig. Passt das zur Schwere des Themas? Von wegen Schwere: Bei genauem Lesen ihres Essays fallen viele Spitzfindigkeiten auf und selbstironische Bonmots. Plötzlich tauchen im Winde-Lexikon Buschwindröschen auf und Windeier, dazu Anzüglichkeiten über „Gelehrte, Politiker und einfache Spießbürger“, Betonung auf einfach. Bei der Schweizer Lesung hätten viele Leute gelacht, erzählt sie. In der Woche danach in Köln „fast gar nicht, leider“. Ausgerechnet in der deutschen Fröhlichkeitskapitale Köln.
Ivetta Gerasimchuk findet die westliche Kultur mit Lesungen und anschließender Diskussionen „ungewöhnlich“. In Russland würden Texte, auch ihrer, „von Zeitungen und Magazinen gedruckt, dann lesen es die Leute und denken darüber nach“. Ohnehin ist sie Schreiberin, nicht Vorleserin. „Die Leser sollen denken.“ Und Sinn suchen. „Ich vermeide es ja auch, direkte Antworten zu verwenden.“
Fragen zu dem Leben jenseits ihrer Ausbildung sind kein leichtes Unterfangen. Das umfängliche Studium sei „ein wenig wie im Treibhaus, wie in einer Orangerie, getrennt vom anderen Alltagsleben in Russland“. Sie erzählt vom Leben mit ihren KommilitonInnen, das sei „geistig ziemlich originell“, aber nicht „typisch für andere Jugendliche, vor allem in meiner Heimatstadt“, viele seien heute doch „sehr depressiv, unterdrückt von den Bedingungen des Lebens“. Durch den Preis fühle sie eine „große Verantwortung, weil ich als Symbol für Gerechtigkeit diene, nämlich dafür, dass man in Russland Erfolg haben kann auch ohne Beziehungen“.
Ist ihr Essay auch eine Parabel auf ihr Russland, zwischen ewig gestrigen Chronisten und anemophilen Erneuerern? Na ja, sagt sie, man könne den Text „dahin gehend weiterentwickeln“. Russland heute sei schon „ein Land der extremen Standpunkte“. Unser Vorschlag: Man könnte über russische Strukturchronisten oder chronische Zwangsanemophile schreiben. Ivetta Gerasimchuk kichert. Was sie wohl wirklich denkt über die Idee?
Die Frage nach Hobbys. „Nicht viel. Ich habe so wenig Zeit.“ Ivetta liest viel und studiert, liest viel und arbeitet, liest viel und gibt daheim Nachhilfeunterricht. „Vielleicht mal spazieren gehen oder in den Zoo.“ Fernsehen? In Moskau eine Glotze zu haben sei „ziemlich gefährlich“. Dann kämen ständig Hilfe suchende Kommilitonen und wollten alles Mögliche anschauen, „natürlich immer fürs Studium“, sagen sie. Und hier? „Ich gucke ein bisschen, Nachrichten manchmal.“ Und zur Zerstreuung? „Auch schon mal Filme. Um mein Deutsch zu verbessern. Oder englische Filme mit Untertiteln.“ Unterhaltung mit zusätzlichem Bildungseffekt eben.
Ivetta sagt, sie sei halt „sehr neugierig“. Schon immer. „Als Kind haben mich alle Naturwissenschaften interessiert.“ In Deutschland hat sie jetzt Solaranlagen besichtigt, ergänzend zu ihrem Moskauer Ökologiestudium: „Solarenergie gilt in Russland als unseriös, als Unfug. Man kennt das kaum.“ Die Deutschen gefallen ihr, sie seien „freundlich, hilfsbereit und selbstbewusst“. Aber sie wisse, dass ihre Erfahrungen wahrscheinlich andere wären, wenn sie eine schwarze Hautfarbe hätte. „Leute aus Osteuropa werden hier wohl eher akzeptiert.“
Ist Deutschland inspirierend? Ach, eigentlich habe „das Schreiben wenig mit der Umgebung zu tun“. Hauptsache, im Kopf weht es richtig. Eines habe sie allerdings nicht kapiert an diesem Land, ein richtiger Kulturschock: „Diese Eisenbahntarife. Das verstehe ich nicht. Ich kaufe immer eine Karte, und dann gilt sie wieder nicht.“
Dann muss Ivetta per Zug nach Köln. Die zarte Frau hat einen Koffer dabei, den kein Sturm forttragen könnte. Mindestens 30 Kilo. „Alles Bücher“, sagt sie, ein Bekannter wolle die Fracht von Köln nach Moskau mitnehmen. Wir helfen ihr zum Dürener Bahnhof. Ivetta am Fahrkartenautomaten. Der erste akzeptiert Köln als Ziel nicht. Der zweite gibt zwei Preise an. „Warum das? Ich nehme immer den billigeren.“ Wie soll man das System unterschiedlicher sich kreuzender Verkehrsverbünde einem Fremden erklären, wenn man es schon selbst kaum versteht? Mysterium Deutsche Bahn. Dann lieber inspirierende Moskauer U-Bahn.
Eigentlich ist das „Wörterbuch der Winde“ eine Parodie auf allen Denkenskult. Ein philosophisches Satyrspiel. Und doch so intelligent und polyglott geschrieben, dass Ivettas Wortspiele mit „Wind“ in den sieben Lettre-Wettbewerbssprachen funktionieren (weshalb etwa „Windbeutel“ oder „Windspiel“ fehlen). „Die Richtigkeit des Inhalts des Wörterbuchs der Winde“, steht da geschrieben, „hängt vom Grad der Überzeugtheit des Lesers ab.“
Ivetta Gerasimchuks Wörterbuch wird zum Ende hin immer skurriler, es reflektiert sich selbst und ist wie ein absurdes Märchen ins historische Gaga gesetzt. Textprobe: Es werde erzählt, „daß man das Wörterbuch der Winde in gotischer Schrift gesehen habe“. „Es ist unklar, wo, wann und in welcher Sprache dieses Buch zuerst erschien; es ist unbekannt, ob die Zusammensetzung der Abschnitte beständig ist [. . .]. Daß einige Abschnitte deutlich auf das Ende des 20. Jhd. Bezug nehmen, hat nichts zu sagen – sie können von irgendeinem glücklichen Weissager geschrieben worden sein. [. . .] Keiner der Texte [. . .] konnte bislang einer wie auch immer gearteten Analyse unterzogen werden.“
Und genau genommen ist jeder der 2.480 Wettbewerbskonkurrenten mit seinem oft stürmisch-schwergewichtigen Text schon Teil von Ivetta Gerasimchuks leisem Witz gewesen. Heißt: Die anderen haben sich selbst um den Siegesruhm geschrieben, indem sie geschrieben haben. Perfekte Raffinesse: Die anderen lassen sich selbst aus dem Weg pusten, chronistisch und anemophil. Mit Ivettas hingehauchtem Sturmgebraus.
Im Kölner Hier und Jetzt möchte Ivetta auch noch „ein paar Sachen einkaufen“. Was? „Na ja“, lacht sie, „Bücher.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen