Warten auf Speiseöl und Zucker

Das Warten auf bessere Zeiten dauert in der jugoslawischen Hauptstadt nun schon mehr als zehn Jahre. Und fast genauso lange warten die Bürger auf den politischen Wechsel. In gut einer Woche wird in Serbien ein neuer Präsident gewählt

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Vor einem Geschäft in der „Srpskih Vladara“-Straße im Zentrum Belgrads stehen einige Dutzend Menschen Schlange. Es nieselt, es ist kühl, ein verfrühter Herbsttag. Bedrückt und still, mit seltener Geduld warten die durchnässten, frierenden Bürger. Man ist Warten gewöhnt. Seit einem Jahrzehnt wartet man auf Lebensmittel, Medikamente, Benzin, längst fällige Renten und Gehälter. Und darauf, dass der eine oder andere Krieg zu Ende geht. Warten auf bessere Zeiten.

„Warten Sie auf Speiseöl oder Zucker?“, fragt Frau Nada einen älteren Herrn, den letzten in der Schlange. „Diesmal auf Zucker, Gnädigste“, antwortet der alte Mann „überraschend freundlich“, wie Frau Nada flüsternd erklärt. Sonst seien die Menschen so gereizt und boshaft geworden, beklagt sich die gebürtige Belgraderin. Soziale Not sei jedoch keine Entschuldigung für schlechte Manieren! Dafür könne man nicht das internationale Wirtschaftsembargo und die Zerstörungen der Nato verantwortlich machen, was sonst die „Lieblingsausrede“ des Regimes für die gewaltige Misere im Land sei.

Frau Nada, vierzig Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, eine „völlig durchschnittliche Frau“, wie sie von sich selbst sagt, braucht Zucker, und so stellt sie sich seufzend in die Schlange. Sie habe gerade genug Geld für zwei Kilo Zucker, Kekse und Fruchtsaft für die Kinder könne sie sich nicht leisten, und das sei „so bedrückend“, beklagt sie sich bei dem „freundlichen“ alten Mann. Alles sei wieder teurer geworden. Ein Kilo Zucker koste auf dem Schwarzmarkt über 50 Dinar (etwa 1,70 Mark), im staatlichen Geschäft, wenn es denn Zucker gibt, nur 15 Dinar. Ein Kilo Mehl koste nun 14 statt 11 Dinar, und Hühnerfleisch sei von 89 auf ganze 105 Dinar gestiegen. „Dann hören Sie auf zu jammern, und wählen Sie am 24. September die Opposition“, mischt sich eine jüngere Frau in einem Ledermantel laut und aggressiv ein.

Plötzlich kommt Bewegung in die Masse. „So ist es!“, hört man und „Scheiß-Milošević!“. Als die Verkäuferin mit offizieller Stimme verkündet, der „Zucker sei für heute aus“, hören die Flüche gegen das Regime und den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević gar nicht mehr auf. „Na, dann werden wir wohl zu den Urnen gehen müssen“, sagt die Verkäuferin verschwörerisch und verschwindet in die Sicherheit des Ladens. Auf den Straßen der jugoslawischen Hauptstadt kann man seit langem kaum ein lobendes Wort über Milošević hören.

Ganz Belgrad ist zugeklebt mit den roten Wahlplakaten der regierenden Koalition, mit der Botschaft „Das Volk wählt und nicht die Nato“. Für das staatliche Fernsehen ist der Sieg Milošević’ bei der Präsidentenwahl schon eine ausgemachte Sache, seinem Herausforderer von der „Demokratischen Opposition Serbiens“, Vojislav Kostunica, gibt man nicht die geringsten Chancen. Die Meinungsumfragen, die ausnahmslos Kostunica einen gewaltigen Vorsprung geben, werden als „bestellt“ abgetan. Denn, wie ein Kommentator im staatlichen Fernsehen erklärte, das Volk , das „vor der Entscheidung zwischen Freiheit und Okkupation steht“, wird doch nicht Kostunica wählen, den Mann der Nato, die serbische Kinder ermordet habe, den Mann, der Geld bekomme, um Serbien zu zerstören. Wie sicher der Sieg Milošević’ sei, beweise schon die Tatsache, dass rund 1,6 Millionen Bürger seine Kandidatur mit ihrer Unterschrift unterstützt hätten. Und das sei „die einzige relevante Meinungsumfrage“.

Frau Nada ist verärgert und bedrückt. Ja, auch sie habe für Milošević’ Kandidatur unterzeichnet, gibt sie zu, und sie schäme sich, weil sie keinen Mut gezeigt habe. Aber sie sei Beamtin und habe Angst, ihren Job zu verlieren, und ihr Mann, ein Ingenieur, verdiene auch so wenig. „Und die Kolleginnen haben mir allesamt geraten zu unterschreiben“, sagt sie weinerlich. Als dann einige junge Menschen an ihrer Haustür klingelten und sie baten, für Kostunica zu unterschreiben, sei es ihr so peinlich gewesen, dass sie auch für die Opposition unterzeichnete. Und jetzt befürchte sie, jemand könnte es erfahren. Ihr Vertrauen würde sie jedenfalls Kostunica schenken. Weil sie es leid sei, Schlange zu stehen und Angst zu haben.

In Belgrad leben über zwei Millionen Menschen, rund ein Fünftel der Bürger Serbiens. Im Gegensatz zu den Bildern des „historischen Wiederaufbaus nach der Aggression der Nato“ und der „Aufbruchstimmung“, die die gleichgeschalteten elektronischen Medien vermitteln, herrscht in der herabgekommenen jugoslawischen Metropole eine schwermütige Stimmung. Die ganze Stadt ist ein riesiger Flohmarkt geworden, Arbeitslose und Flüchtlinge verkaufen und kaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Ein gewaltiger, bedrohlicher Unmut braut sich da zusammen. Niemand kann sich nach 13 Jahren Herrschaft eine Niederlage Milošević’ vorstellen. Und was würde sich schon ändern, wenn Kostunica die Wahlen gewänne?