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Glück macht blöd

H & M an der Schaubühne: Barbara Frey inszeniert Ödön von Horváths „Eine Unbekannte aus der Seine“ und entdeckt den Spießer in uns allen

von ESTHER SLEVOGT

Ein modernes Wohnhaus mit dreizehn Appartments, wie es auch in der Nähe der Schaubühne stehen könnte. Graue Betonfassade, Kratzputz, große Fenster und vereinzelte Satellitenschüsseln auf den Balkons. Im Erdgeschoss zwei Ladenwohnungen: ein Uhrmacher und ein kleiner Blumenladen. Manchmal gehen in den Zimmern die Lichter an, und wie im Aquarium sieht man dann die Menschen hinter den verschiedenen Gardinen aufleuchten. Manche von ihnen wird man im Laufe des Abends kennen lernen. Die Blumenhändlerin Irene zum Beispiel, den jungen Mann von nebenan, der heiraten wird und mit Irene die Zusammensetzung des Brautstraußes bespricht. Irenes Ex-Liebhaber Albert, der zum Mörder wird, und ein unbekanntes Mädchens mit zerrissenen Strumpfhosen, das ein bisschen Schicksal spielt, bevor sie wieder ins Ungewisse verschwindet, aus dem sie kam.

Vor dieser Szenerie von Bettina Meyer hat Barbara Frey Ödön von Horváths Komödie „Eine Unbekannte aus der Seine“ inszeniert – ein Stück, zu dem Horváth Anfang der 30er-Jahre von der Totenmaske einer jungen Selbstmörderin inspiriert wurde, die man um die Jahrhundertwende aus der Seine gezogen hatte, und deren entrücktes Lächeln auch Rilke beschäftigt hat. In zahllosen Kopien hing diese Maske in europäischen Wohnungen herum, sozusagen als Verkörperung der ewigen Bürgersehnsucht nach einem metaphysischen Mehrwert des Lebens, jenseits der materiellen Kulissen ihres beschränkten Glücksbegriffs. Menschen sind eben nur schön, solange sie unglücklich sind. Glück macht hässlich und blöd. Natürlich ist das ein Klischee. Aber ein ziemlich wirksames, und wahrscheinlich ist auch Horváth darauf hereingefallen.

Jedenfalls sieht sein Stück vor, dass die handelnden Figuren Kleinbürger bzw. Spießer sind. Und Barbara Frey nimmt diese Vorgabe durchaus ernst. Aber es sind ganz moderne und heutige Leute, die ihre Inszenierung bewohnen. Die meisten von ihnen haben bestimmt einen Internetanschluss. Und was sie anhaben, könnte auch aus der aktuellen H & M-Kollektion stammen. Bei Barbara Frey und ihren Schauspielern sind die Spießer nicht die anderen, sondern erst einmal sie selbst. Das ist das Sympathische dieser Inszenierung und ihrer stillen, fast kühlen Atmosphäre.

Da ist also Albert (Lars Eidinger), eine gescheiterte Existenz. Mit ein paar Kumpeln will er den alten Uhrmacher überfallen, weil man sowieso nichts mehr zu verlieren hat. Seine Exfreundin, die Blumenhändlerin Irene (Julika Jenkins) hat längst einen anderen, mit dem sie aber auch nicht glücklich ist. Ein junger Mann namens Emil will heiraten, und ihm ist nicht wirklich wohl dabei. Jeder will eben irgendein Glück und hat Angst, dass er das Falsche bekommt.

Barbara Frey malt lauter liebevolle Porträts. Rührende Ganoven, eine Hausmeisterstochter im Jogginganzug, ein romantischer Polizist, der die „Mords-Kommission“ einschalten will, um das Verbrechen am Uhrmacher aufzuklären. Das hat seine Längen, und man hätte sich an vielen Stellen einen offensiveren Umgang bei der Fahndung nach dem Spießer in uns selbst vorstellen können, dessen Sehnsucht heute nicht an Totenmasken aus Gips, sondern an Lieder von Kurt Cobain geknüpft ist. Aber am Ende geht man doch irgendwie berührt nach Hause. Auch weil Barbara Frey die Sehnsucht nach Glück nicht denunziert, sondern völlig in Ordnung findet.

Schaubühne am Lehniner Platz, Wilmersdorf, nächste Vorstellungen: 18. 9., 29. 9., 30. 9., 1. 10., 3. 10. jeweils 20.30 Uhr

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