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Der Pustekuchen für die Kinder

taz-Serie „Zwischenzeiten“ (Teil 8): Pünktlich zur Währungsunion eröffneten Eltern am 1. Juli 1990 den ersten Kinderladen in Ostberlin nach der Wende. Pünktlich mit der Wiedervereinigung kam auch die Bürokratie

von JULIA NAUMANN

Freiheit für die Kinder – das war es, was im Sommer 1990 zählte. Freiheit von der DDR-Pädagogik, Freiheit aus dem Korsett, in das sie tagtäglich hineinschlüpfen mussten. „Wir wollten einen neuen Alltag für die Kinder“, sagt Andrea Neumann, Mutter von zwei Töchtern, die heute 16 und 11 Jahre alt sind. „Wir wollten es einfach anders machen als die Erzieherinnen in den staatlichen Kindergärten“, erzählt Bettina Köppen, Mutter von zwei Söhnen.

Im Sommer 1990, die erste Wendeeuphorie war schon verfolgen, eröffneten die beiden Frauen mit anderen befreundeten Eltern den ersten Kinderladen in Ostberlin nach der Wende. Ohne großartige pädagogische Konzepte im Kopf, aber mit viel Elan und Mut, für Noch-DDR-Verhältnisse etwas völlig Neues auf die Beine zu stellen. „Das war damals eine großartige Zeit“, schwärmt Bettina Köppen. „Es war alles viel einfacher als heute.“

Vielleicht, weil im Sommer vor zehn Jahren das Kinderladenprojekt ein Hauch von Freiheit und Anarchie begleitete. Nicht nur als es um Räume und finanzielle Unterstützung ging, sondern auch, weil nicht so richtig klar war, ob und wie eigentlich erzogen werden sollte. Doch die anarchische Zeit schwand Stück für Stück mit der Wiedervereinigung.

Schlechte Erfahrungen

Ihr Erfahrungen mit dem Erziehungssystem der DDR waren für Bettina Köppen und Andrea Neumann so einschneidend, dass sie sofort, als es möglich war, etwas Eigenes schaffen wollten. Andrea Neumanns Tochter Antonia besuchte zuvor einen Kindergarten im Bezirk Friedrichshain. Da die Mutter 1988 noch studierte, noch keine festen Arbeitszeiten hatte, brachte sie das Kind manchmal erst um 10 Uhr. Vorgeschrieben war aber, das Kind spätestens um 8.30 Uhr abzugeben.

Der Knatsch mit der Leiterin war vorprogrammiert. Erst wurde sie ermahnt, dann wurde ihr gedroht, schließlich bekam sie eine Anzeige. Nur weil Andrea Neumann mit ihrer Tochter morgens noch ein bisschen Zeit verbringen, mit ihr frühstücken oder ein Buch vorlesen wollte. Aufgrund der Anzeige musste die Mutter, die damals Heimerziehung studierte, sich vor dem Jugendamt rechtfertigen. Ein Psychologe prüfte, ob das Kind Entwicklungsprobleme bekommen würde, wenn es ab und zu mal später in den Kindergarten komme. Das Gutachten fiel zugunsten von Antonia aus. „Das war alles sehr mühselig“, erinnert sich Neumann. „Ich musste ich mich ziemlich zusammenreißen.“

Bettina Köppen ging es ähnlich. Ihr Sohn, ein Linkshänder, wurde von der Erzieherin immer wieder gezwungen, den Löffel und den Stift mit der rechten Hand zu halten.

„Pustekuchen“ sollte die Lösung werden. Bereits vor der Wende trafen sich einige Eltern, die alle in der gleichen Gegend wohnten, ab und zu konspirativ in der Wohnung einer weiteren Kinderladen-Mitbegründerin. Die meisten von ihnen hatten Schriften von Maria Montessori gelesen, wussten etwas über Kinderläden und antiautoritäre Erziehung in Westberlin. Im Vordergrund stand jedoch immer die persönliche Betroffenheit.

Die Eltern wollten sich vor allen Dingen von der DDR-Pädagogik abgrenzen. Kein zwanghafter Mittagsschlaf mehr, kein synchrones Töpfchengehen, keine Trennung der Altersgruppen. Und viel Raum für Eigenständigkeit und Kreativität. Denn der Tag in den DDR-Kitas war bis auf die Minute genau durchorganisiert. So war zum Beispiel der „Waschvorgang“ der Kinder nach dem Essen im „Erziehungs-und Bildungsplan“ in 14 Schritte gegliedert, die die ErzieherInnen auswendig lernen sollten.

Kinder wurden zu „artigen, sauberen, angepassten, kreativgehemmten, frühzeitig indoktrinierten Wesen“, so die nüchterene Zusammenfassung einer der Kinderladen-Gründerinnen. Ziel des Erziehungssystems sei es gewesen, eine „sozialistische Persönlichkeit“ heranzubilden. Kinder wurden auf Gehorsam konditioniert. Die eigene Meinung sei störend gewesen, vielmehr stand der Gedanke des Kollektivs im Vordergrund.

Die Kinderladen-GründerInnen, viele von ihnen waren StudentInnen, wollten einfach nur, dass die Kinder sich zukünftig wohler fühlen sollten, wie es Bettina Köppen ausdrückt. In einem programmatischen Text von damals heißt es: „Wir wollen eine Kindertagesstätte sein, die das konfliktfähige und friedliche Zusammenleben und die Entfaltung der kindlichen Kreativität zu den hauptsächlichen Zielen erklärt. Ausgangspunkt ist die kindzentrierte Pädagogik. Einen hohen Stellenwert messen wir dem Erlernen von sozialen Fähigkeiten zu, wie Hilfsbereitschaft, Toleranz, Rücksichtnahme, Konfliktfähigkeit und die Fähigkeit zu selbständigem Denken.“

Ein geeigneter Laden war nach einigen Monaten im Frühjahr 1990 im Stadtteil Prenzlauer Berg gefunden. In der Belforter Straße Ecke Prenzlauer Allee gab es eine Kinderkrippe, die schon seit einigen Jahren geschlossen war. Die Eltern renovierten in Eigeninitiative. In den zuvor von braunem Sprelacart und grellen Neonröhren geprägten Räumen durften die Kinder die Wände selbst anmalen.

Bewundernde Scheu

Ansprechpartner für die Eltern war das Gesundheitsamt. Die Mitarbeiter, erzählt Unterstützer Nilson Kirchner, der schon in der DDR in einem relativ offenen Jugend-und Kinderarbeitprojekt arbeitete, hätten eine „bewundernde Scheu vor unserer Dreistheit“ gehabt. „Vielleicht fanden sie es sogar gut, was wir gemacht haben“, vermutet Kirchner. Dennoch gab es „endlose Auseinandersetzungen“ mit den alten Behörden, erinnert sich eine andere Mitbegründerin. Es gab keine gesetzlichen Grundlagen, das verunsicherte die Mitarbeiter der Ämter zusätzlich. „Den Kinderladen verhindern wollten sie jedoch nicht“, sagt Kirchner.

Schließlich wurde der Laden als Pilotprojekt genehmigt. Der Rat des Stadtbezirks finanzierte drei Planstellen bis Dezember 1990. Die Eltern konnten bis zur Wiedervereinigung relativ eigenständig schalten und walten.

Am 1. Juli 1990, pünktlich zur Währungsunion, war es dann so weit. „An diesem Tag waren die Läden erstmals voll mit Westwaren“, erinnert sich Andrea Neumann. In der Kaufhalle kaufte sie Cornflakes und Müsli. „Wir haben den ersten Tag mit einem tollen Frühstück angefangen.“

Neumann arbeitete selbst bei „Pustekuchen“, zusammen mit einer gelernten Bibliothekarin. Sie betreuten 20 Kinder, zwei davon waren behindert. „Es war alles ziemlich chaotisch“, erinnert sich Neumann. Die organisatorische Arbeit habe sich häufig vor die inhaltliche geschoben.

Doch im Rückblick zeigen Neumann gerade die Kleinigkeiten, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat: Neben dem „Pustekuchen“-Laden gab es noch eine staatliche Betreuungseinrichtung. Einige Wochen nach der Eröffnung sah Neumann die Kinder dort „in Reih und Glied“ herausspazieren. Sie selbst machte mit ihren Zöglingen ebenfalls gerade einen Spaziergang. Die wiederum liefen alle munter durcheinander. „Da habe ich mich unheimlich gefreut, dass es bei uns anders läuft.“

Doch schon im Herbst 1990 wurde die wuselige, beschwingte Anfangsphase vom Alltag eingeholt. Und das bedeutete auch, gewisse Grenzen und Normen einzuführen. „Wir haben untereinander sehr viel diskutiert“, erinnert sich Neumann. Streitpunkt war zum Beispiel, ob die Kinder mit Kriegsspielzeug spielen dürften. Einen Konsens habe es nicht gegeben. Auch gab es unterschiedliche Ansichten, wie man mit „Problemkindern“, die viel schrien und aggressiv waren, umgehen solle. Sollte bestraft werden oder nicht?

Am Tag der Wiedervereinigung, am 3. Oktober 1990, wurde das Kinder-und Jugendhilfegesetz im Ostteil eingeführt. Die Eigenständigkeit wurde radikal beschnitten. „Seit der Vereinigung mussten wir mit der Bürokratie kämpfen“, sagt Neumann. „Wir hatten auf einmal einen Haufen Stress.“ Mit der Jugendverwaltung musste über Antragsverfahren, Betriebsgenehmigungen und Platzgelder verhandelt werden. Die Deckenbeleuchtung musste eine bestimmte Lux-Zahl haben und die Fliesen im Badezimmer aus rutschfestem Material sein. Es dauerte einige Zeit, bis, penibel, wie die Deutschen eben sind, alles unter Dach und Fach gebracht wurde.

Und dann wurde etwas eingeführt, was sich Andrea Neumann eigentlich niemals hatte träumen lassen. Der Betreuerinnen – das Wort „ErzieherInnen“ wurde peinlichst vermieden – beschlossen, dass die Eltern die Kinder bis 9.30 Uhr bringen sollten. Der Grund: Es sollte eine gewisse Tagesstruktur vorgegeben werden und unnötige Chaotik vermieden werden. „Die Kinder hatten sich einfach zu stark individualisiert“, sagt Neumann. Bis heute sei es schwierig, die Öffnungszeiten bei den Eltern durchzusetzen.

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