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Unbehagen an der „Urheimat“

In zehn Jahren sind zwei Millionen Aussiedler nach Deutschland gekommen. Vor allem die Jugendlichen sitzen zwischen den Stühlen. Netzwerke der Integration sollen ihre Chancen erweitern, auch durch gezieltere Sprachförderung

von ULRICH STEWEN

Der Anrufer von „Spiegel TV“ kam gleich zur Sache. Man stelle sich vor, ein paar „integrationsunwillige“ Jungaussiedler vor die Kamera zu holen; ob der Aussiedlerberater da nicht ein wenig behilflich sein könne. Der aus Russland stammende Sozialarbeiter im Berliner Stadtteil Marzahn, wo rund 13.000 Russlanddeutsche leben, hatte sich den journalistischen Umgang mit dem Thema „Kriminalität unter Aussiedlern“ wohl weniger spektakulär vorgestellt und verweigerte die Zusammenarbeit. Dabei hätten die Fernsehleute, etwas Fingerspitzengefühl vorausgesetzt, in Marzahn durchaus fündig werden können – wie an vielen anderen Brennpunkten.

Zwei Millionen deutsche Aussiedler aus Russland, Kasachstan und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Längst nicht für alle erwies sich die „Urheimat“ als Erfüllung kühner Träume und lang gehegter Sehnsüchte. Im Gegenteil: Gerade junge Leute haben mit der neuen Heimat ihre Probleme – und die neue Heimat hat Probleme mit ihnen.

Hatte in den früheren Jahrzehnten kaum jemand Notiz davon genommen, dass Deutschstämmige aus der Sowjetunion, aus Polen, Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten nach Deutschland aussiedelten, so änderte sich das Bild in den vergangenen Jahren drastisch. Vornehmlich beruflich qualifizierte Städter mit guten Deutschkenntnissen entschlossen sich ehedem, nach Deutschland auszusiedeln, wo der Arbeitsmarkt Unterkommen und Aufstieg bot. Die überschaubare Zahl an Zuwanderern strapazierte Budgets und Fördertöpfe nicht sonderlich. Heute stammt die Mehrheit der Aussiedler aus ländlichen Gebieten Russlands und Kasachstans, knapp die Hälfte der Einwanderer ist jünger als 25 Jahre, meistens hat die Wirtschaftsmisere in der Heimat den Entschluss reifen lassen, zu gehen. Nur wenige sprechen so gut Deutsch, dass sie sich schnell in den unduldsamen Alltag zwischen Flensburg und Passau, Aachen und Frankfurt (Oder) einleben. Wer schon eine Berufsausbildung mitbringt, hat oft die falsche, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können.

Im Rekordjahr 1990 reisten knapp 400.000 Personen nach Deutschland aus. Ihre Aufnahme hier ist durch das Grundgesetz (Art. 116) und zusätzlich durch bilaterale staatliche Vereinbarungen gewährleistet. Man schätzt, dass heute noch rund 1,5 Millionen Angehörige der deutschen Minderheit in Russland, Kasachstan, der Ukraine und den mittelasiatischen Staaten leben.

Als die Zahl der Aussiedler in den ausgehenden Achtzigerjahren drastisch zunahm, zogen die deutschen Behörden die Notbremse. Die Verfahren zur Anerkennung als Aussiedler wurden strenger, Integrationshilfen wurden eingeschränkt, und 1992 wurde eine Quotenregelung eingeführt. Jährlich durften fortan nicht mehr als 200.000 Personen in Deutschland aufgenommen werden. Als später auch noch Sprachprüfungen für die Ausreisewilligen zur Pflicht wurden, ging die Zahl der Einwanderer noch weiter zurück. Was vom zuständigen Innenministerium als Erfolg verbucht wird, ist manchem – vor allem im Blick auf die Rechtslage – ein Dorn im Auge. Schließlich haben Deutschstämmige einen Rechtsanspruch auf die hiesige Staatsangehörigkeit; ihre Einreise zu erschweren oder hinauszuzögern ändere daran nichts, meint der Migrationsforscher Klaus J. Bade aus Osnabrück, ein vehementer Kritiker der Aussiedlerpolitik.

Zu Beginn dieses Jahres hatte die Bundesregierung die Quote erneut gesenkt und auf 100.000 Personen jährlich beschränkt. Kaum überraschen kann die Begründung, wonach immer weniger Menschen entschlossen seien, nach Deutschland auszusiedeln. Andererseits achtet das Innenministerium darauf, dass in den Siedlungsgebieten der Deutschen in Russland und Kasachstan nicht der Eindruck entsteht, Deutschland schließe allmählich seine Tore für Aussiedler. Immerhin besitzen schätzungsweise 200.000 Personen bereits eine Einreisegenehmigung – zunächst ohne fest entschlossen zu sein, ihre Heimat wirklich zu verlassen. Wohl deshalb reagierte der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, der SPD-Abgeordnete Jochen Welt, Anfang Juli gereizt auf den Vorstoß des bayerischen Innenministers Günther Beckstein, der die Zuwanderung von Aussiedlern auf 50.000 Personen pro Jahr drücken wollte. Mit derartigen Vorstellungen (die später von der CSU zurückgenommen wurden) provoziere man zur Ausreise, sorgte sich Welt.

Doch der Stimmung in den russlanddeutschen Gemeinden gilt nicht die Hauptsorge des Politikers. Zwar werden seit Welts Amtsantritt im Dezember 1998 die Hilfen für russlanddeutsche Siedlungen in Westsibirien und andere Gebiete mit russlanddeutschen Gemeinden fortgesetzt, um dadurch nicht zuletzt auch den Druck zur Aussiedlung zu mindern, doch kostspielige Großprojekte sollen nicht mehr gefördert werden. Vielmehr liegt der Schwerpunkt heute bei zusätzlichen Integrationshilfen für Aussiedler in Deutschland und darin, private, kommunale und kirchliche Initiativen wirkungsvoll zu „Netzwerken der Integration“ zu bündeln. In diesem Jahr hat das Innenministerium dafür 45 Millionen Mark zur Verfügung, im nächsten Jahr soll der Aussiedlerhaushalt auf 50 Millionen Mark aufgestockt werden. Sprach- und Berufsbildung sind dabei zentrale Posten – und Aktionen für Jugendliche.

Junge Aussiedler sitzen zwischen allen Stühlen. Teils nicht einmal freiwillig mit Eltern und Angehörigen nach Deutschland gekommen, sprechen die meisten kaum Deutsch und finden sich damit ab, als „Russen“ zu gelten. Die Ablehnung durch gleichaltrige Einheimische bestärkt viele darin, anders zu sein. Die geringe Aussicht, unter solchen Bedingungen einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle zu finden, lässt viele resignieren und nach anderen Wegen suchen, ein wenig an den materiellen Angeboten dieser Gesellschaft teilzuhaben.

Jeder zehnte jugendliche Straftäter stammt aus einer Aussiedlerfamilie, hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen festgestellt. Damit sind jugendliche Aussiedler unter Gefängnisinsassen doppelt so stark vertreten, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde. Und als jugendlicher Aussiedler landet man zudem schneller als andere im Knast.

Joachim Walter, Leiter des Jugendgefängnisses Adelsheim nahe Heilbronn, hat Hinweise darauf, dass vor Gericht junge Aussiedler schlechtere Karten haben als einheimische Jugendliche. In Adelsheim, einer der größten Jugendstrafanstalten Deutschlands, beträgt der Anteil der Aussiedler 14 Prozent – siebenmal mehr als zu Beginn der Neunzigerjahre.

Psychologen der Universität Jena haben angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse jugendlicher Aussiedler keine Entwarnung gegeben, allerdings haben sie in einer Studie mit 220 Migranten herausgefunden, dass sich die überwiegende Mehrheit nach etwa drei Jahren an die neue Lebensweise gewöhnt hat. Die Entwicklungspsychologin Eva Schmitt-Rodermund meint: „Sind die typischen Anfangsschwierigkeiten erst überwunden, sind die meisten jugendlichen Spätaussiedler gesellschaftlich voll integriert.“

Die Wissenschaftler aus Jena unterstreichen die Bedeutung von Sprachkenntnissen bei den ersten Schritten in der neuen Gesellschaft. Fehlten diese, so drohten Ausgrenzung und Misserfolg: zwei Wege in Kriminalität und Drogenkonsum.

Und Drogenkonsum ist unter jungen Aussiedlern alles andere als unbekannt. Der Aussiedlerbeauftragte hat Erkenntnisse darüber, „dass Drogengefährdung bei jugendlichen Aussiedlern zunimmt“. Voraussichtlich zum Jahresende wird das Gesundheitsministerium eine Untersuchung zum Thema „Migranten und Sucht“ vorlegen. Vielleicht wird die Studie dann auch eine Antwort auf die Frage gestatten, warum gerade mal 13 Prozent der jugendlichen Aussiedler der Meinung sind, in Deutschland willkommen zu sein.

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