: Der Abtrünnige
aus Karlsruhe UTA ANDRESEN
Weltabgewandt ist er nun wirklich nicht. Soeben aus der Provence zurück. Das Ferienhaus auf Fehmarn im Bau. Der Bauch wölbt sich unterm Polohemd, zeugt von gutem Essen und gutem Wein. Und vielleicht ist ja auch dieser Mangel an Weltabgewandtheit schon immer sein Problem gewesen. Bis es zu einem Problem der anderen wurde.
Stephan Erich Wolf, freier Werbetexter, geboren 1951 zu Dresden, getauft im Jahre 1968 im Schwimmbad zu Pforzheim. Von zu Hause ausgerissen, heimlich geheiratet und Kontakt zu Abtrünnigen aufgenommen. Gestorben im Jahre 1997 – zumindest für die Zeugen Jehovas.
Wenn die ihn so sehen könnten: mit Bart – das verbietet die Schrift! Mit Jeans – eine Provokation! Mit der Presse – das Instrument des Satan! Stephan Erich Wolf sitzt auf der Terrasse des Hotels Residenz, blinzelt in die Sonne und wendet sich seinem zweiten Kännchen Kaffee zu. Ein Mann, über den die Zeugen Jehovas nicht sprechen, der für sie so gut wie beerdigt ist.
Wenn du ausgestiegen bist, gibt es keinen Kontakt mehr, auch nicht zu Leuten, von denen du dachtest, sie seien deine Freunde. Da darf dich keiner mehr grüßen. Die fühlen sich nicht mehr frei, mit dir zu reden – und so ist es ja auch.
Alles andere als tot, dieser Mann. Das könnten die Zeugen Jehovas seit einigen Jahren auch bemerkt haben – vorausgesetzt, es ist ihnen erlaubt, das Internet zu nutzen. Dort pflegt Stephan Erich Wolf eine Website für ehemalige Zeugen. Dokumente über das Geschäftsgebaren der Wachturm-Gesellschaft, Berichte von Augenzeugen, Adressen von Selbsthilfegruppen – alles in allem weit über tausend Seiten. Zeugnis einer Aktivität, wie man sie wohl nur entwickeln kann, wenn man selbst betroffen war.
Selbst betroffen. Das macht mindestens wütend, sicher verbittert und damit zu einer unsicheren Informationsquelle. Mag sein, dass er es ist. Wahrscheinlicher ist, dass er es war. Stephan Erich Wolf scheint über die Symptomatik hinweg zu sein. Keine wilden Vorwürfe, keine unglaublichen Geschichten, nicht einmal ein angespanntes Händekneten oder aufgeregtes Haspeln.
Aussteiger. Ein Wort, abgeleitet aus einem Bewegungsablauf – technisch, bürokratisch und harmlos. Wie „Haltet doch mal kurz an, ich möchte eben aussteigen – danke auch.“ Das „mal eben“ dauerte bei Stephan Erich Wolf dreißig Jahre. Es war kein Halt auf offener Strecke. Eher ein Hin und Zurück, als würde jemand von Karlsruhe nach Berlin fahren und sich auf jedem Unterwegsbahnhof einmal die Beine vertreten.
Den ersten Zwischenstopp legte Stephan Erich Wolf schon bald nach seiner Taufe mit siebzehn Jahren ein. Die Eltern, beide Zeugen Jehovas, hatten darauf gedrängt, dass der Sohn mit in den „Königreichssaal“ in Pforzheim, den Versammlungsraum der Zeugen Jehovas, kommt.
Zu einer Versammlung gehören um die hundert Personen. Das ist bewusst so gewählt, da kannst du den Einzelnen gut im Blick behalten. In so einer Sekte sind ja anfangs alle sehr freundlich zu dir. Den Druck, das gegenseitige Bespitzeln, die peinlichen Befragungen durch die Ältesten, ob du die richtige Einstellung hast, den Bericht, in den du eintragen musst, wie viele Stunden du mit Missionieren, Bibelstudieren und so verbracht hast – das erfährst du alles erst später.
Vater Wolf nahm es mit den Regeln der Wachtturm-Gesellschaft sehr ernst. Dienstags „Versammlungsbuchstudium“, freitags „Predigtdienstschule“, sonntags „Vortrag mit „Wachtturm-Studium“. Morgens beim Frühstück Lesen und Besprechen des „Tagestextes“, einer Bibelstelle also, nachmittags von Tür zu Tür, „Weltmenschen“ überreden, „in der Wahrheit“ zu leben, denn wer dies nicht tut, wird zerstört, wenn „Harmageddon“, das Ende dieser Welt kommt.
Die Rituale der Religion decken das gesamte Familienleben zu. Wo du früher Ausflüge gemacht hast, gehst du nun in die Versammlung. Und der Predigtdienst – da gibt es irgendeine Bibelstelle, die sagt: Du sollst allzeit beschäftigt sein im Herrn, oder so. Irgendwann stirbt dann jede persönliche Beziehung. Dein Vater fängt an, dich zu züchtigen, denn so steht es in der Bibel. Dein ganzes Leben dreht sich nur noch um dieses eine Thema: Du bist in der Wahrheit.
Es war 1969, auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Die Zeugen Jehovas Deutschland halten mit 160.000 Mitgliedern ihren jährlichen Kongress ab und Stephan Erich Wolf verguckt sich in eine dunkelhäutige „Schwester“ aus New York. Man schreibt sich, will sich besuchen. Doch dann erfährt Stephan Erich Wolf, „dass das, was die Zeugen predigen und das, was sie tun, zwei verschiedene Dinge sind“. Alle Menschen sind gleich, aber dieser hat die falsche Hautfarbe. Der Vater verbietet den Umgang, der Gemeindeälteste warnt vor der anderen „Mentalität“. Da legt der Sohn den zweiten, längeren Zwischenstopp ein. „Mein Vater meinte mich einschließen zu müssen, ich seilte mich mit dem Bettlaken ab und suchte mir ein möbliertes Zimmer in Pforzheim.“
Die Zeugen sagen immer: Das sind menschliche Probleme. Und du lastest es nicht der Religion an. Du hast dich ja über die Regeln hinweggesetzt. Dass dein Verhalten erst durch die Organisation, durch deren Reglement, provoziert wird, siehst du nicht.
Stephan Erich Wolf ist 21 Jahre alt und reichlich bedient, nur geht das seiner Frau nicht so, die er ohne den Segen von Eltern und Versammlung geheiratet hat. „Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich ausgestiegen. Aber sie wollte in die Versammlung“, sagt Stephan Erich Wolf. New York verlassen, keine Deutschkenntnisse, keine Kontakte. „Also gingen wir in Karlsruhe in die englische Versammlung“, sagt er.
In einer Zeugenehe gibt es immer Reibereien, wenn der eine weniger gläubig ist als der andere. Du bist zu wenig in der Wahrheit, wenn du deinen Kindern das Bibelstudium zu Hause ersparst. Du bist der Verräter, wenn du deine Kinder sonntags zum Fahrradturnier fährst. Du bist des Satans, wenn deine Kinder 14 werden und sich nicht taufen lassen wollen.
Das, was dort Woche für Woche im Königreichssaal auf der schmucklosen Bühne vorgetragen wird, interessiert Stephan Erich Wolf nur noch mäßig. Religion? „Zu viele Fragen, für die es keine Antwort gibt. Zu viele Dinge, die man glauben muss“, sagt er.
Im Jahre 607 ist Jerusalem gefallen, also wird 1914 – eine bestimmte Zeitspanne danach, die mit Hilfe von Bibelstellen konstruiert wird – das Königreich Christi im Himmel errichtet. 1914, klar, der Erste Weltkrieg. Also glaubtest du, dass das Ende naht. Das sollte 1975 dann endgültig eintreten. Du hast ständig in der Angst vor dem Untergang gelebt – und eifrig alle Anordnungen der Ältesten befolgt. Du hast deine Schul- und Ausbildung auf das Nötigste beschränkt, um möglichst viel Zeit in der Wahrheit zu verbringen.
1975, Zeit für „Harmageddon“. Stephan Erich Wolf ist 24 Jahre alt, und das Ende ist da – seines Glaubens an die bibelgestützten Empfehlungen der Zeugen Jehovas. Wenn schon kein Königreich im Himmel, dann doch wenigstens etwas Gemütlichkeit in Karlsruhe. Keine Versammlung mehr ohne ein gutes Buch, kein schlechtes Gewissen mehr bei Überstunden im Büro, keine Party von Kollegen mehr ohne ihn.
Du sollst keine Karriere machen. Du sollst bescheiden sein und nicht nach weltlichen Gütern streben. In letzter Konsequenz landest du auf der untersten sozialen Stufe, völlig isoliert.
Keine Versammlung ohne ein gutes Buch. Die Ältesten hätten Stephan Erich Wolfs literarische Vorlieben sicher nicht für segensreich erachtet, hätten sie denn mal einen Blick darauf geworfen, was er Sonntag für Sonntag in der letzten Reihe der Versammlung las. Stephan Erich Wolf fing an mit der Biografie einer Mormonin, die ihr Leben in der Sekte beschrieb, und endete mit dem Werk von Steven Hassan „Cult Behaviour and Mind Control“, der die psychischen Schäden von einstigen Sektenmitgliedern beschreibt.
Irgendwann merkst du beim Lesen: Du musst ja nur das Wort „Mormonen“ durch „Zeugen“ ersetzen – das Ergebnis bleibt das Gleiche: der psychische Druck, der Glaube, auserwählt zu sein, die materielle Ausbeutung der Mitglieder. Da beginnst du, misstrauisch zu werden.
Letztlich sorgte eine Frage dafür, dass Stephan Erich Wolf nie wieder an einem Zeugen-Kongress teilnehmen wird. Sommer 1991, auf der Rückfahrt vom Kongress, in jenem Jahr London. Stephan Erich Wolf sitzt im Auto und fragt seine Frau: „Was hätten wir verpasst, wären wir nicht hingefahren?“ Die Antwort gibt er sich selbst: Nichts. „Ab da war ich nur noch physisch anwesend – meiner Frau zuliebe, die sich bis heute nicht trennen kann von der Versammlung“, sagt Stephan Erich Wolf.
Es ist gut, wenn du nicht Hals über Kopf gehst. Denn du hast ja immer wieder Zweifel: Vielleicht wirst du gerettet, wenn du bleibst. Vielleicht bist du verdammt, wenn du gehst.
Im Jahre des Herrn 1997 gibt Ste- phan Erich Wolf, bis dahin geduldetes Mitglied der englischen Versammlung zu Karlsruhe, der taz ein Interview. Schimpft öffentlich die Zeugen eine Sekte, eine Diktatur, einen Konzern mit 1,25 Milliarden Dollar Jahresumsatz, der seine Mitglieder als billige und willige Arbeitskräfte ausbeute. „Ein paar Wochen nach dem Interview wurde ich ausgeschlossen.“ Endstation, bitte aussteigen. Das traf sich in einem gewissen Sinne gut. Stephan Erich Wolf hatte eh genug von der Reise. Und das schon lange.
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