: Ritualstätte für den Dünkel
Bei jeder Olympiade wird der Gedanke der „Völkerverständigung“ beschworen. Tatsächlich sind die Spiele chauvinistisch und fördern den nationalen Wahn
Worum es beim Sport wirklich geht, ist schwer zu sagen. Worum es sicher nicht geht, liegt dagegen auf der Hand, auch wenn jüngst wieder große Reden gehalten und Eide geschworen wurden auf den „olympischen Geist“, „sportliche Verbrüderung“ und „Völkerverständigung“. Dieser Geist selbst kommt aus dem Trüben, wie ein kleiner historischer Rückblick zeigt.
Baron Pierre de Coubertin, der Erfinder der modernen Olympischen Spiele, hatte sehr biegbare und zeitgemäße Grundsätze. „Man muss seinen Reichtum unaufhörlich steigern“, denn diese „Welt des Kampfes ums Überleben“ ist nicht rosig, weil „zwischen den Nationen ein Wettbewerb in Handel und Industrie“ herrscht. Der Mann aus französischem Uradel war alles andere als frei von Chauvinismus und Nationalismus. Er wollte „die Rache“ für die französische Niederlage von 1870/71 vorbereiten helfen, „indem wir gute Soldaten ausbilden“. Dazu sollten Sport und Schulsport dienen, denn „Frankreich retten (ist) ein höchst sportliches Unterfangen“. In seinem „Dekalog von 1915“ hieß die kriegsgerechte Devise, mit der die Sportler in die Schützengräben geschickt wurden: „Vom Spiel zum Heroismus“.
Aber der „begeisterte Kolonialmann“ sah im Krieg auch eines der größten Übel und setzte deshalb auf „moralische Mobilmachung“. Für die feinere Gesellschaft sah er vor, dass sich deren Nachwuchs in den elitären Gymnasien, Hochschulen, Clubs und Salons schlechte Manieren und kriegerische Gelüste abgewöhnen lassen sollte durch gediegene Bildung, Lektüre der Klassiker und gesellige Unterhaltung. Aber wie konnte das ungehobelte Volk im Zaum und bei der Stange gehalten werden? Der Aristokrat dachte sich etwas Republikanisches aus. Er empfahl für die minderen Stände eine „Republik der Muskeln“ zur allgemeinen und kollektiven Aggressionsabfuhr und Triebumlenkung. Dafür schienen ihm die „Olympischen Spiele“ von 1896 geeignet. Diese „Spiele“ sollten zunächst dazu beitragen, den Krieg auf den Schlachtfeldern durch den Kampf in den Sportstadien zu ersetzen, aber je näher das Ende der bürgerlichen Epoche rückte, desto weniger wollte Coubertin davon wissen. 1914 hieß auch für ihn der Ernstfall Krieg und nicht Frieden.
Mittlerweile haben sich die Verhältnisse in sportlicher, politischer, medialer und wirtschaftlicher Hinsicht verändert – und zwar durchweg auf Kosten des Sports, verstanden als körperliche Aktivität. Hier zeichnen sich schon länger perverse Entwicklungen ab. In allen Sportarten, in denen es viel Geld zu verdienen gibt, findet die Rekrutierung der „Talente“ in deren Kinder- und Jugendzeit statt, und die Ausgewählten lernen nichts als „ihren“ Sport, bis sie mit etwa 30 Jahren Trainer oder Sportfunktionäre werden oder ein eigenes Sportbusiness aufmachen. Der verlogene Staatssozialismus war in einer Hinsicht ehrlicher: Er machte aus Sportlern zunächst Fahnenträger des Systems und danach Staatsrentner.
Zu den „Spielen“ in Sydney schicken die beiden großen deutschen Kirchen je einen „Sportpfarrer“, um im „Ernstfall“ – in dem Pfarrer zu Coubertins Zeiten noch Kanonen und Maschinengewehre segneten – Verlierer darüber hinwegzutrösten, dass die Niederlage im Wettstreit nicht „den Sinn, der mein Körper ist“, zerstört. Wenn die Kirchen leerer und die Sportstadien voller werden, ändern sich halt die Präferenzen und die Kundschaft. Aber statt nach Sydney zu fahren, sollte man mit dem vielen Geld vielleicht besser samstags ein paar Pastoren in die berüchtigten Kurven in den deutschen Stadien abordnen, denn da präsentiert sich „die neue Sinnfrage“ ziemlich dramatisch als Gewaltbereitschaft.
Im Windschatten der „religio athletae“ (de Coubertin) entwickelte sich ein gewöhnliches Geschäft. Die wirtschaftliche Dimension des Sports ist eine groteske Illustration zum Wohlstandsgefälle. Sportartikelhersteller und Vermarkter spielen weltweit um viel Geld; den zum Teil jugendlichen Arbeiterinnen und Arbeitern in den alles andere als sportlich lustigen Knochenmühlen der „Dritten Welt“, wo die Sportartikel hergestellt werden, bleibt das sprichwörtliche „Dabeisein ist alles“.
Was die politische Seite des Sports betrifft, so ist er vom Fußball bis zu den Formel-1-Rennen zu einer Ritualstätte für nationalen Dünkel, aggressive Ressentiments und Gewalt geworden. Daran hat die Sportberichterstattung erheblichen Anteil. Sie macht aus den „Spielen“ „das größte aufblasbare Ereignis der Welt“ (Neue Zürcher Zeitung). Allein die deutschen Sender übertragen täglich etwa 27 Stunden. Insgesamt werden aus Sydney von 4.000 Journalisten 3.400 TV-Stunden gesendet (vor vier Jahren waren es noch 2.700 Journalisten und rund 2.000 Stunden). Von wegen „triumphalem Hochfest des Weltsports“, wie die FAZ meinte – viele Berichte sind schlicht Teile des Götzendienstes am nationalen Hochaltar. Hier wird der Dumpfsinn (fast) hemmungslos gehegt und gepflegt. Mit der Parole, „wir“ haben es „denen“ gezeigt, hämmern Sportjournalisten den Zuschauern vermeintlich „normale“ nationale Orientierungsraster in die Köpfe und wundern sich, wenn diesen gelegentlich die Sicherungen durchbrennen. Was ist eigentlich daran „normal“ oder „völkerverbindend“, dass die Sportberichte ganz überproportional auf „nationale“ Erfolge und Misserfolge abheben? Vor einigen Jahren verfolgte ich in einem Schweizer Bergrestaurant ein Abfahrtsrennen vor dem Fernseher. Der enthemmte Haufen johlte und klatschte, wenn einer von den „anderen“ bei einer Geschwindigkeit von über 100 Kilometern stürzte – wohl wissend, dass solche Stürze lebensgefährlich sind.
Wenn sich Spinner oder Kriminelle Sportveranstaltungen heraussuchen für Schlägereien oder Bombenanschläge, so ist das Gejammer der Sportjournalisten von „sinnloser“ Gewalt reine Heuchelei. Sie selbst predigen die Zuschauer mentalitätsmäßig schlagreif mit ihren chauvinistischen Siegermeldungen wie mit ihren Lobgesängen, wie überlegen „wir“ doch dastehen mit „unseren“ Leuten und Medaillen.
Die sportliche Leistung von Einzelnen oder Teams wird kollektiviert und in die wahnhafte nationale Buchhaltung eingearbeitet. Durch die Medien funktioniert Sport als ein effizienter Durchlauferhitzer für ein trübes Gemisch aus nationalem Dünkel und mehr oder weniger offenen Gewaltfantasien. Dem Trainer Alexander Pusch zufolge „fehlt“ den nicht sehr erfolgreichen Degenfechtern weder Training noch Talent, sondern „einfach der Killerinstinkt, ... der Wille zum Sieg“. Bild betäubte die gescheiterte Schwimmerin Franziska van Almsick zuerst mit einem Schwall voller Spott, Hohn und Häme: „Im Geld“ ihrer Werbeeinnahmen „kann sie schwimmen“, aber „Gold bei Olympia – das kann man eben nicht kaufen“. Und dann rissen sie der Frau („hübsch, jung, millionenschwer“) den „Deutschland-Trainingsanzug“ wegen nationaler Schande förmlich vom Körper, an dem sie sich in ihren ebenso nationalen wie männlichen Zwangsvorstellungen schon als Miteigentümer wähnten.
RUDOLF WALTHER
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