: Der Körper als Testreihe
Zwischen moderner Urbanität und archaischen Traditionen, zwischen Hightech und Schamanismus: Die junge finnische Choreografin Jonna Huttunen mit „Fake 1“ bei den Tanztagen im Pfefferberg
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Ihre Stücke passen perfekt in eine Zeit, die den Subjektbegriff Stück für Stück aufgeben muss. Wie schlecht installierten Computerprogrammen droht ihren Figuren jederzeit der Absturz. Jonna Huttunen zeigt zum vierten Mal im Pfefferberg einen Teil ihrer eigenwilligen Arbeit. In „Fake 1“ wechseln beklemmende Szenen mit Bildern von großer Zärtlichkeit. Durch die Musik wird ein ganzes Kraftwerk von Strömen und Impulsen geleitet, aber die Tänzer Laura Doehler, Heini Nukari und Gerhard Maaß verharren oft wie festgenagelt. Wenn sie sich dann bewegen, geschieht es oft ansatzlos und plötzlich. Diese Figuren haben keine biografische Vorgeschichte und kein autonomes Bild ihrer selbst. Sie wirken vielmehr in langen Sequenzen wie Gefäße, in denen irgendjemand chemische und physikalische Testreihen durchzieht.
„Eigentlich bin ich gar nicht so, weder so cool noch so depressiv wie meine Stücke“, behauptet die zierliche Finnin, und man möchte ihren strahlenden Augen Glauben schenken. Erklärungen, woher die Themen kommen, die am Ende eines choreografischen Prozesses greifbar werden, hat sie keine und meint: „Ich bin davon selbst überrascht.“ Bei der Probe vor zwei Tagen, als sie das Material noch anders zusammengebaut haben, war diese Eigendynamik in der Verwerfung der Figuren noch nicht so sichtbar. „Ich gehe von der Form aus und wie es sich anfühlt im Körper“, beschreibt sie ihren Ansatz.
Ihr geht es da wie einer Malerin, die nur das leere Geviert der Leinwand als Realität anerkennt und darin kompositorische Probleme verhandelt; dann kommen die Betrachter und sehen in den abstrakten Strukturen und Knoten Chiffren der Flexibilität, die von menschlichen Beziehungen heute eingefordert werden. Nicht der Referenzrahmen ist zuerst da, sondern die Befreiung des Materials von allem Vorgewusstem und Vorgeformten. Was Huttunen am meisten fürchtet, ist die Glätte einfach zusammengebauter Folgen des Modern Dance. Deshalb will sie demnächst mit Schauspielern arbeiten, die gar nicht erst diese Floskeln gelernt haben.
Möglichst mit finnischen Schauspielern. Es zieht Huttunen, die 1994 mit knapp zwanzig nach Berlin zum Studium an der Ernst-Busch-Schule kam, zurück nach Helsinki. Mit Heini Nukari, Partnerin in ihrem Duett „On the other side of the mirror“ und auch in „Fake 1“ dabei, hat sie viel über ihre finnischen Wurzeln geredet: irgendwo zwischen Hightech und Schamanismus, moderner Urbanität und archaischen Traditionen lauert da ein Reibungspotenzial, an das sie wieder ran will. Nukari und Huttunen kennen sich seit der Schulzeit an einem Gymnasium in Helsinki, das als Erstes in Finnland Klassen für Tanz, Schauspiel, Literatur und Video anbot. Heute fallen beide durch ein Spektrum an Ausdrucksformen auf, das über die Grenzen von Tanz und Schauspiel hinausgeht.
Nach Helsinki zieht es Huttunen auch, weil sich dort die Konditionen, eine eigene Gruppe aufzubauen, verbessert haben. In Berlin haben sie zwar der Pfefferberg und die Tanzfabrik unterstützt. Doch ihr erstes langes Stück „No“, mit dem sie das Publikum Anfang 1999 in einen eiskalten Bann schlug, konnte sie nicht weiterbearbeiten, weil ihr Geld fehlte, die Tänzer zu bezahlen. Sie nahm in Leipzig eine Stelle als Leiterin des Leipziger Tanztheaters, einer semiprofessionellen Gruppe an, die nur abends und am Wochenende Zeit für Training und Proben hat. Mit ihnen hat Huttunen zwei Stücke entwickelt, von dieser Basis aus leistet sie sich ihr choreografisches Engagement in Berlin.
„Fake 1“, 22. u. 23. 9, ab 21 Uhr, Pfefferberg, Schönhauser Allee 176, Mitte; „On the other side of the mirror“: 27.-29. 10, Tanzfabrik, Möckernstr. 68
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