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Sicher im Erdinnern

So leicht wird aus dem Leben keine komische Geschichte, so leicht lässt das Leben niemanden los: Jan Koneffkes Roman „Paul Schatz im Uhrenkasten“

von GERRIT BARTELS

Da fühlt sich aber jemand sicher, der seinen Roman mit einem Kapitel beginnt, das nur aus Fragen besteht. „Verstellte Großvater Haueisen einen Uhrenzeiger? Hockte er im Erdinnern am Schaltpult mit blinkenden Lampen und zweihundertdreißig exakten Uhren und zettelte Revolutionen an? Streichelte er seinen Bart, Karl Haueisen, der Logenmeister, Antisemit und Rechnungsrat im Reichspostministerium und Hitlerhasser gewesen war?“ Ziemlich verwirrend, wenn man als Leser gleich mit so vielen Fragen konfrontiert wird und sich eigentlich noch recht fremd fühlt. Das aber scheint dem Autor nichts auszumachen, der in Folge immer wieder mal ein solcherart gestaltetes Break in seine Erzählung einbaut.

Der sich da so sicher fühlt, ist der 40-jährige Schriftsteller Jan Koneffke, der schon Ende der Achtziger mit einem Lyrikband, einer Art Detektivroman und einigen Erzählungen erfolgreich auf sich aufmerksam machte, dann aber neun Jahre lang so gut wie nichts von sich hören ließ. Nun wartet er mit einem souverän erzählten und raffiniert konstruierten Roman auf, der in dieser Saison gut zu den Romanen seiner aus derselben Generation stammenden Kollegen Michael Kumpfmüller und Marcel Beyer passt: Auch in Koneffkes Buch „Paul Schatz im Uhrenkasten“ spielt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle. Das ist zwar nicht so leicht und nonchalant erzählt wie Kumpfmüllers „Hampels Fluchten“ und nicht so suggestiv-rätselhaft wie Beyers „Spione“, dafür aber in seiner Mischung aus Familien-, Entwicklungs- und Liebesroman poetischer und anrührender. Dem nun diese zu Beginn gestellten Fragen wirklich am Herzen liegen, ist der junge Paul Schatz. Dieser wächst in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren als Sohn eines jüdischen Schildermalers und einer nichtjüdischen Mutter im Berliner Scheunenviertel auf und bekommt damit durch Geburt und die schrecklichen äußeren Umstände eine Identitätsstörung schon in jungen Jahren mit auf den Weg.

Sein Leben wird dabei weniger von seinem Vater, den er selten sieht, sondern mehr von seiner Mutter geprägt, die stirbt, als er sechs ist, und über deren genauen Todesumstände er erst am Ende des Zweiten Weltkriegs die Wahrheit erfährt. Die Überfigur in seinem Leben aber ist vor allem besagter Großvater Haueisen, der Vater seiner Mutter, der in Pauls Fantasie auch nach seinem Tod weiterlebt irgendwo im Erdinnern, wo er die Zeiger der Weltuhr verstellt und die Ereignisse auf der Welt nach Gutdünken und Pauls Vorstellungen beinflusst. Zum Beispiel so, dass keine SA-Leute Steine in jüdische Läden werfen. Oder so, dass Hitler Jude ist, im Scheunenviertel die Scherben aufliest und die Läden neu anstreicht.

Mit Pauls Großvater als Gott aus der Maschine und zusätzlicher Unterstützung erlaubt es sich der allwissende Erzähler Koneffke, die Welt des jüdischen Scheunenviertels aus der Perspektive eines Kindes zu schildern: Vielfältig, aufregend und komisch ist diese Welt, mitunter geradezu märchenhaft, aber eben auch kein Idyll. Immer wieder dringt die Realität der Dreißigerjahre in Pauls Leben, immer mehr Leute verschwinden aus seiner Umgebung, und schließlich muss auch er 1938 Berlin verlassen und findet Unterschlupf bei seinem schrulligen, aber großartigem Großonkel in Quedlinburg im Harz. Dort lebt er bis zu seinem Tod 1999, gezeichnet durch die Erfahrungen seiner Jugend, die stellvertretend von seiner Quedlinburger Freundin Lotte zusammengefasst werden: „Ich kenne nichts anderes, als im Verborgenen zu leben. Und weißt du warum: Was ich will, das verschließt sich und bleibt mir verborgen. Es zeigt sich mir nicht, beinahe nie.“

Es ist gar nicht so leicht, sich in diesem Roman einzufinden, nicht zuletzt, weil Koneffke gern vor- und zurückspringt, die Ereignisse in Pauls Leben zumindest bis 1938 reichlich bruchstückhaft erzählt, so wie sie sich eben in der Erinnerung darstellen. Nach und nach aber wird einem Pauls Welt geradezu vertraut, und es wirkt nicht überkonstruiert, sondern im Gegenteil beruhigend und erhellend, als Koneffke im zweiten Teil des Buches noch einen Ich-Erzähler installiert. Dieser besucht mit seinem Vater Paul und dessen Frau mehrmals in der DDR und erzählt in großer Raffung, wie es Paul bis zu seinem Tod ergangen ist und auch, wie Pauls Mutter ums Leben kam und was sein Vater und sein bewunderter Großvater für eine schlechte Rolle dabei gespielt haben. Am Ende sind alle Fragen nur rhetorisch, Paul hat sie sich längst selbst beantwortet und muss einsehen, dass man aus dem Leben nicht einfach eine komische Geschichte mit Hand und Fuß machen kann: „Wenn man nicht zappelt und strampelt in seiner Geschichte, wird man sein Leben nicht los“, weiß er, der gezappelt und gestrampelt hat und sein Leben nicht losgeworden ist.

Das hat ihn voll erwischt, das baut er schließlich in seinen letzten Jahren in Form einer riesigen Uhr nach. Wie ein großes Uhrwerk liest sich auch Koneffkes Roman: im Innern komplex, nach außen hin aber problemlos funktionstüchtig und so schön erzählt, dass man am Ende das Gefühl hat, lange keine Figur der jüngeren Literatur mehr so ins Herz geschlossen zu haben wie Paul Schatz.

Jan Koneffke: „Paul Schatz im Uhrenkasten“. Du Mont, Köln 2000. 276 Seiten, 39,80 DM

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