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Ein Amalgam aus 15 Verfassungen

Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union ist ein Baustein für die politische Integration und ein Schritt hin zu einer europäischen Verfassung. Der erste Entwurf trägt deutlich die Handschrift des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Bedenkt man die über zehn Monate hitzig geführten Debatten über Gott und die Welt, ging es gestern in der letzten Plenarsitzung des Europäischen Grundrechtekonvents geradezu geschäftsmäßig zu. Nach zwanzig Minuten hatte Gunnar Jansson, ein Abgeordneter des finnischen Parlaments, die restlichen redaktionellen Änderungen verlesen, die allerletzte Diskussionsrunde konnte beginnen.

Da allerdings wurde klar, dass die Frage, welchen Stellenwert Gott und die Welt im europäischen Grundwertekatalog haben sollen, keineswegs abschließend geklärt ist. Die Debatte biss sich an einer Formulierung fest, die dafür stellvertretend steht. In der englischen Endfassung der Präambel ist das „kulturelle, humanistische und religiöse Erbe“ der Union durch „spiritual and moral heritage“ ersetzt worden. Deutsche konservative Parlamentarier aber wollen diese Formulierung für den deutschen Text nicht akzeptieren.

Der CSU-Abgeordnete Ingo Friedrich sagte, der vorliegende Charta-Entwurf sei ein respektables Ergebnis, bei dem alle Seiten Zugeständnisse gemacht hätten. Es sei ihm aber vom Präsidium zugesichert worden, das Wort „spirituell“ werde im deutschen Präambeltext nicht auftauchen. „Ich akzeptiere religiös und moralisch oder geistlich-religiös und moralisch – spirituell lehne ich ab, denn es gibt Spiritisten und ähnliche Aspekte ...“

Möglicherweise hätte Roman Herzog eine Idee gehabt, wie dem Kollegen Friedrich geholfen werden kann. Am Wochenende hatte er aber wegen eines Schwächeanfalls alle Termine für die nächsten Wochen absagen müssen. Quer durch alle Parteien und Herkunftsländer herrschte Einigkeit, dass ohne die geschickte und humorvolle Regie des deutschen Ex-Bundespräsidenten dieser Text nicht zustande gekommen wäre, der eines Tages als Rohling einer Europäischen Verfassung dienen kann.

In einem Brief, den er am 20. September an die Konventsmitglieder schickte, hatte Herzog dem bunten Haufen ein letztes Mal väterlich ins Gewissen geredet: Er habe den Eindruck, dass die Arbeit planmäßig abgeschlossen werden könne. Am 26. September dürfe sich jeder zur Endfassung äußern. Am 2. Oktober werde der Chartaentwurf dem Präsidenten des Europäischen Rates übergeben.

Tatsächlich trug die ganze Veranstaltung paternalistische Züge. Ein Kommissionsvertreter, 16 Europaabgeordnete, 30 Vertreter nationaler Parlamente und 15 Regierungsdelegierte saßen regelmäßig, im September sogar zwei Tage die Woche, zusammen, um aus fünfzehn unterschiedlichen Verfassungstraditionen, unzähligen Nuancen im Spektrum zwischen rechts und links und einer Vielzahl ganz persönlicher Anliegen einen Text zu filtern, in dem alle Bürger der Union sich wiederfinden können. Leidenschaftlich wurde um soziale Mindeststandards wie das „Recht auf Arbeit“ gerungen, von dem am Ende nur „das Recht auf Zugang zur Arbeitsvermittlung“ übrig blieb. Ob das Klonen von Menschen zu medizinischen Zwecken erlaubt, die Todesstrafe ausdrücklich verboten sein solle, darüber redeten sich die Delegierten die Köpfe heiß.

Herzog ließ jeden ausführlich zu Wort kommen. Dann aber zog er sich mit einem kleinen Kreis von Stellvertretern zurück und schrieb einen Entwurf. Lag der erst einmal schwarz auf weiß jedem Delegierten vor, waren allzu schillernde Inhalte stillschweigend weggefallen, Fakten geschaffen, die nächste Runde schon vorprogrammiert. Dass der Redaktionsausschuss die Inhalte der Charta wesentlich beeinflussen konnte, merkten viele Konventsteilnehmer erst allmählich. Dennoch blieb die Palastrevolution aus, denn Herzog gab jedem Einzelnen das Gefühl, seine Anliegen seien in den Text eingeflossen.

„Es ist ein Wunder, dass wir durch Osmose 54 Artikel hinbekommen haben“, meinte der sozialistische Abgeordnete Jo Leinen am Ende des Sitzungsmarathons. Immerhin war die Prozedur demokratischer als das sonst übliche Gipfelgeklüngel hinter verschlossenen Türen. Sollte der Konvent als verfassunggebende Versammlung für Europa Schule machen wollen, bräuchte er nur noch eine Geschäftsordnung. Damit demokratisch entschieden werden kann, wer im Redaktionsausschuss sitzt und wie die Endfassung abgestimmt wird.

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